3838 Wolfgang Michael, Geschichte des Parlamentarismus in England.
staatlichen, kirchlichen, wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, aber es führt sie nichtan, es ist
nicht ihr Träger, es gibt dem Willen der Herrscher nur den gesetzlichen Ausdruck. Nur so wird der
Gang der Reformation in Eneland verständlich. Der wunderliche Zickzackkurs, den die Kirchen-
politik der Tudors beschreibt — das Parlament folgt ihm durch all seine Inkonsequenzen hindurch.
Dabei haben die Tudors sich wohl gehütet, den historischen Rechten des Parlameiits zu nahe
zu treten. Gesetzgebung, Steuerbewilligung, bis zu einem gewissen Grade sogar Kontrolle der Ver-
waltung übt esaus. Es streitet erfolgreich für die Redefreiheit, für die persönliche Unantastbarkeit
seiner Mitglieder. Aber freilich, in dem England Elisabeths spielt nicht das Parlament die führende
Rolle. Von der Königin selbst strahlt aller Glanz der Epoche aus. Sie gibt den grossen Staatsmän-
nern die Richtung ihres Handelns. Howard und Drake schlagen die Schlachten der Königin. Selbst
die nationale Dichtung gibt, so gut in Spencers Feenkönigin, wie in den Dramen Shakespeares,
verhüllt und unverhüllt, eine Verherrlicbung der Monarchie.
Auf das Zeitalter Elisabeths folgt der Verfall der Monarchie unter den Stuarts, folgt die Revo-
lution des 17. Jahrhunderts. Sie ist auch an dieser Stelle insofern zu berücksichtigen, als sie der
Tendenz der Stuarts, die Regierung des Landes absolutistisch zu gestalten, erfolgreich entgegenge-
treten ist und der künftigen Weiterentwicklung des Parlamentarismus in England die Bahn frei
gemacht hat. Auf verfassungsgeschichtlichem Gebiete hat die Revolution nicht viel Dauerndes
hinterlassen, aber einzelne reformatorische Gedanken treten doch auf, die zwar zusammen mit den
stastlichen Bildungen dieser Epoche zunächst wieder verschwinden, aber dennoch in späteren
Zeiten neu ergriffen und verwirklicht worden sind.
In dem über kirchliche wie politische Fragen entstandenen Konflikt zwischen Krone und
Parlament haben Jakob I. und Karl I. zu dem Mittel gegriffen, so oft und so lange wie möglich ohne
Parlament zu regieren. Ja, Karl I. scheint, dem Beispiel Frankreichs folgend, wo seit 1614 die Ge-
neralstände nicht mehr berufen wurden, daran gedacht zu haben, du:ch die einfache Nichtberufung
das Parlament ganz zu beseitigen. Es gelang nicht. Elf Jahre lang, von 1629—1640 hat er ohne
Parlament regiert. Dann sieht er sich gezwungen, zur Deckung der Ausgaben, die ein Krieg in
Schottland ihm verursacht, von neuem parlamentarische Bewilligungen zu begehren. Der nun
susbrechende Konflikt zwischen König und Parlament führt zum Bürgerkriege, zum Untergange
des Königs, zur Verkündung der Republik. Mit dem Königtum war auch das Haus der Lords gefallen.
Das Unterhaus allein blieb übrig und bildete die Regierung des Landes. Ein aus seiner Mitte gewähl-
ter Staatsrat führte die Exekutive. Neben ihm standen etliche Ausschüsse für besondere Aufgaben
der Regierung. So schien der Sieg der Revolution die Aufrichtung einer reinen Parlamentsherrschaft
zur Folge zu haben.
Und doch war dies nur das Zerrbild eines parlamentarischen Systems. Von den vor acht
Jahren gewählten Mitgliedern des Unterhauses war nur noch ein kleiner Rest übrig geblieben. Viele
waren freiwillig ausgeschieden, viele vor dem Beginn des Königsprozesses gewaltsam ausgeschlossen
worden, Nachwahlen nur in geringem Masse erfolgt. Von einer wirklichen Volksvertretung konnte
hier nicht mehr die Rede sein, eher von der Oligarchie einer Schar ehrgeiziger Männer, die zwar den
monarchischen Absolutismus erfolgreich bekämpft und sich um die auswärtige Stellung Englands
grosse Verdienste erworben hatten, nun aber den Besitz der Macht nicht fahren lassen wollten. Da
sind es die siegreiche Armee des Bürgerkrieges und ihr grosser Führer Oliver Cromwell gewesen, die
ihrer Herrschaft ein Ende machten. Er treibt sie mit schmähenden Worten auseinander, und wie
er selber später sagen durfte: „kein Hund hat nach ihnen gebellt.‘“ Auf die Herrschaft des langen
Parlaments folgte die Militärdiktatur. Cromwell regiert als Lord Protector mit dem „Instrument of
Government‘, der einzigen geschriebenen Verfassung, welche England jemals besessen hat. Auch
die Rechte des Parlaments waren darin fixiert, und weit genug war ihr Umfang bemessen. Cromwell
hat in der Tat auch Parlamente berufen, aber sie stehen ihm wie Scheinwesen gegenüber. Schon
nach dem Wahlmodus konnten sie nicht als wirkliche Volksvertretungen gelten. Und so oft sie von
den ihnen durch das „Instrument“ zuerkannten Rechten Gebrauch machen wollten, wurden sie
von dem Protektor nach Hause geschickt. Als er endlich zufolge der „Humble Petition and Advice“,
einer Weiterentwickelung des ‚Instrument of Government“, dem Parlamente auch wieıler ein Ober-
haus hinzufügte, während er selbst die Stellung und fast auch die Ehren eines Monarchen genoss,
so hateer damit die Rückkehr zur Monarchie selbst vorbereitet.