390 Wolfgang Michael, Geschichte des Parlamentarismus in England.
mässigen Kabinettssitzungen, unter dem Vorsitz des Souveräns, kann wohl zum letztenmale im
Sommer 1717 gesprochen werden. Von nun an erfolgen sie nur ausnahmsweise, um bald völlig zu
verschwinden. Der ohne den König tagende Ministerrat hat den Namen wie die Geschäfte des
Kabinetts an sich genommen. Das Bestreben der Minister, sich in ihrer Amtstührung der regel-
mässigen Kontrolle des Souveräns zu entziehen, hat gesiegt. Dieses Bestreben aber entsprang
dem Gefühl der Verantwortlichkeit geger.über dem Parlamente. Der Monarch kann die Minister
nur entlassen, das Parlament aber droht mit Anklage und Hinrichtung. So wird das Kabinett
selbständiger, es erhält eine Art Mittelstellung zwischen dem Monarchen und dem Parlament,
vom Monarchen abhängig, aber dem Parlamente verantwortlich.!)
Mit dem Ausscheiden des Souveräus aus dem Kabınett hängt auch das Aufkommen
des Premierministers zusammen. Er tritt gewissermassen in die Lücke ein, die der Monarch
im Kabinett hinterlassen hat. Die erste grosse Persönlichkeit, mit der das Amt diese Be-
deutung erhielt, war Robert Walpole. Seine Ministerlaufbahn (1721—42) ist auch für die Geschichte
des Parlamentarismus von höchster Bedeutung. Er hat energisch das Prinzip vertreten, dass das
Kabinett mit der Mehrheit des Unterhauses im Einvernehmen stehen, d. h. nur aus Mitgliedern
der herrschenden Partei zusammengesetzt sein müsse. Er selbst legt als Mitglied des Unterhauses
(er ist der erste leitende Staatsmann, dem der Ehrenname „der grosse Commoner“ verliehen wurde)
diesem in allen wichtigen Fällen den Standpunkt der Regierung persönlich dar. Er ist Meister der
Debatte, er versäumt keine wichtige Sitzung, er lebt recht eigentlich im Parlamente.
Und doch steht er diesem wie der Vertreter fremder Interessen gegenüber. Die Minister sind
noch nicht die Vertrauensmänner des Parlaments, sondern die Diener der Krone. Indem der König
den fähigsten Mann im Parlament für sich gewonnen hat, hat er ihn an ein, dem Parlamente fremdes
Interesse, gefesselt. Der Minister sucht und findet die Stütze seiner Macht am Thron des Königs, nun
aber liegt ihm die Aufgabe ob, sich die Mitarbeit des Parlaments zu sichern, um regieren zu können.
Auf scine grosse Whigmajorität darf Walpole sich nicht schlechthin verlassen. Spaltungen treten
ein. Wicderholt verbindet sich ein starker Flügel mit der Gegenpartei, die Opposition droht oft
übermächtig zu werden. Der Minister arbeitet mit allen Mitteln der Überredung, der Agitation,
er wirkt durch die Presse. Aber das alles genügt nicht immer. Er greift noch zu einem anderen
Mittel, der Korruption. Walpole hat die sicherlich verwerfliche Praxis, die Unterhausmitglieder
zu bestechen, zwar nur übernommen, wie sie auch mit seinem Rücktritt nicht verschwand, aber er
gilt nun einmal als ihr typischer Vertreter. In Wahrheit hat er stets nationale Politik getrieben,
England ist unter seiner friedlichen Regierung reich und mächtig geworden. Das grössere Odium
liegt auf seiten der Bestochenen. Für den Minister ist die Korruption nur das letzte Mittel, um der
Herr im Parlamente zu bleiben. In der Geschichte des Parlamentarismus aber bezeichnet sie die-
jenige Periode, in welcher das Kabinett, oder man sage die Krone, noch ihre eigene Politik verfolgt,
ohne aber die Mitarbeit des zu politischer Selbständiskeit gelangten Parlaments entbehren zu
können. Sie sichert sich diese Mitarbeit durch die Korruption.
Das Bild ändert sich, als 1756 der ältere William Pitt ins Ministerium eintritt. Er ist der erste
grosse Minister, der, durch das Vertrauen des Volks emporgehoben, vom Parlamente aus dem Könige
aufgezwungen wird. Man hat es so ausgedrückt: Walpole war dem Volke vom Könige gegeben
worden, Pitt ward dem Könige durch das Volk gegeben. Mit seiner Erhebung war das Prinzip des
reinen Parlamentarismus zum Siege gelangt, und es hat sich, wenn wir von den episodenhaften Ver-
suchen, der Krone wieder stärkeren Einfluss im politischen Leben zu sichern, abschen, fortan stets
behauptet. Die beiden Parteien der Whigs und Tories stehen einander nunmehr als Regierung und
Opposition gegenüber. Diejenige von ihnen, welche im Unterhause die Mehrheit hat, gibt alle Ent-
scheidungen im Hause, insbesondere aber besetzt sie alle politischen Ämter, bildet also allein die
Regierung, d. h. mit völligem Ausschluss der Gegenpartei. Diese ist zur Role des Zuschauers ver-
urteilt, aber nicht des untätigen Zuschauers. Denn obwohl sie in der Gesetzgebung wie in der Exe-
kutive nichts entscheiden kann. an der letzteren überhaupt gar keinen Anteil besitzt, so ist ihre Tätig-
keit gleichwohl noch bedeutend, die Rolle, die sie zu spielen hat, noch wichtig genug. Denn sie ist
!) Die bisher herrschende (auch von mir noch in der 1. Auflago dio:es Handbuches vertrotone) Auf-
fassung. dass die Unkenntnis der englischen Sprache den König aus dem Kabinetto getrieben habe, ist
nach meiner neuesten Untersuchung (Zeitschrift für Politik V1. 4. 1913) nicht mohr haltbar.