Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

98 Karl Lamprecht, Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte. 
  
sehen in England in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in Frankreich in der ersten Hälfte 
des 18. und in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts, und zwar in Deutschland in den 
Erscheinungen der Empfindsamkeit, des Sturms und Drangs und später in dem Klassizismus und 
der Romantik, sowie in den Parallelerscheinungen zu diesen zunächst literarischen Gebieten Per- 
sonen auftreten, denen starkes Gemütsleben, ausserordentliche und stetige Energie, willenskräftige 
Auswirkung auf andere Personen und ein intellektuell höher stehender Zustand als der des vorher- 
gehenden Zeitalterseigentümlich ist. Vondem ihnen wesentlichen Kern ihres Expansionsbedürf- 
nisses aus erfassen diese Personen vornehmlich einmal die grosse Zeitenfolge, in denen ihr Leben 
steht, woraus sich dann eine intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit und damit der sub- 
jektiv-historische Sinn des 19. Jahrhunderts ergibt, und weiterhin räumlich dem Grundsatze nach 
die ganze Welt (primitiver Kosmopolitismus) und in der Praxis wesentlich die Nation (Nationalgefühl 
und Nationalbewusstsein). Mit diesen Kräften greifen sie dann überall ein und entwickeln daraus 
neue politische und historische Ideale. Da dabei jede dieser Persönlichkeiten ganz auf sich gestellt 
ist und mithin den Trieb zur Ausbildung einer eigenen Weltanschauung besitzt, so ist es prinzipiell in 
dieser Lage eigentlich gegeben, dass ihr voller politischer Ausdruck eine gemüts- und willensreiche 
Anarchie hätte sein müssen. In der Tat ist dies der Ausgangspunkt des politischen Denkens iu den 
neuen Kreisen gewesen. Im Fühlen, Wollen und Denken die weitesten Horizonte suchend, räum- 
liche wie zeitliche, fand dieser Zustand doch bald gewisse Schranken, so vor allen Dingen die der 
Nation und der nationalen Geschichte. Und indem diese Schranken bewusst empfunden wurden, 
entwickelte sich gerade daraus der Trieb zu gegenseitiger Durchdringung, zur Vereinigung auf der 
breiten Basis der eben angedeuteten Horizonte. Und hier tritt dann ein anderes Motiv der sub- 
jektiven Persönlichkeit hervor, das schon im Laufe des 19. Jahrhunderts, noch mehr aber im ersten 
Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts immer wirksamer geworden ist. Das ist das Motiv der modernen 
Vereinsbildung in allen ihren unendlich zahlreichen Formen. 
Fragt man sich nun, in welchen konstitutionellen Formen und Begriffen sich das neue Per- 
sönlichkeitsideal auswirken musste, so ergibt sich für die kirchliche Entwicklung als Antwort: in 
der Sekte, und für die politische Entwicklung: in der Partei. Sekte und Partei sind in dem hier 
gemeinten Sinne Erscheinungen, welche die früheren Zeitalter noch nicht gekannt haben. Dabei 
ist es selbstverständlich, dass für die kirchliche Entwicklung damit die politische Formel der freien 
Kirche im freien Staate gegeben war, soweit Europa, bei dem sich die Sektenbildung eben erst aus 
den Kirchen entfalten musste, in Betracht kam, während sich auf dem neuen Boden Amerikas 
die Sektenbildung alsbald fast ganz ungestört vollziehen konnte. Undso ist es weiterhin auf poli- 
tischem Gebiete das Parteileben mit dem ihm zugrunde liegenden Demokratismus im englischen 
Sinne (Demokracy), welcher als politische Haupterscheinung des 19. Jahrhunderts hervortritt. 
Verfolgen wir nach dieser Abgrenzung der Hauptbegriffe speziell die deutsche Entwicklung, 
so ergibt sich hier, wie schon einmal angedeutet, zunächst die eigentümliche Erscheinung, dass das 
neue Zeitalter ganz entgegen den Lehren der Marx’schen Geschichtstheorie nicht mit Erschei- 
nungen auf wirtschaftlichem Gebiete, sondern alsbald mit Vorgängen in der höchsten geistigen Ent- 
wicklung beginnt. Um 1750 haben wir in Deutschland keine ökonomische Revolution, sondern viel- 
mehr Klopstocks Messiade erlebt. Zum Verständnis dieser Tatsache mag hier mit einigen Worten 
auf eine spezielle, nur kulturgeschichtliche Betrachtung eingegangen werden. Der eigentliche Fehlen 
der Marx’schen Geschichtstheorie ist der, dass vermöge eines Irrtums des dialektischen Schlusses 
unter voller Vernachlässigung der psychologischen Faktoren von wirtschaftlichen Vorgängen un- 
mittelbar auf geistige Erscheinungen und auf deren Folgen geschlossen wird. Ein Vorgang aber 
wie der diesem Schlusse als zugrunde liegend gedachte kommt nie und nirgends im geschichtlichen 
Leben vor, vielmehr ist der Entwicklungsgang für die Massenerscheinungen des geschichtlichen 
Lebens immer der, dass durch irgendwelche von aussen kommende Reize Potenzen geschichtlichen 
Fortentwicklung, die als solche schon in den grossen geschichtlichen Einheiten, Nationen usw. liegen, 
zur Auslösung gelangen, gleichgültig, welcher besonderen Art diese Reize sind. Nun sind diese Reize 
in der Tat sehr häufig wirtschaftlicher Natur, wie es denn keinem Zweifel unterliegt, dass die mo- 
derne deutsche Kultur wesentlich durch die Reize der Umwandlungen unseres Wirtschaftslebens 
ın der zweiten llälfte des 19. Jahrhunderts auszelöst wurde. Allein es kann auch geschehen, dass
	        
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