410 Friedrich Tezner, Entwicklung des Parlamentarismus in Österreich-Ungarn.
haben, dass ungewöhnliche technische Unbeholfenheit, die Plötzlichkeit des Ausbruchs der Revo-
lution in Ungarn und in Wien jene allgemeine verhängnisvolle Verwirrung hervorgerufen haben,
die im Falle planmässiger Anbahnung des Konstitutionalismus durch die österreichische Regierungs-
politik nie eingetreten wäre.
Aus dem gleichen Grunde war der Verfassungsentwurf des Ausschusses des ersten konsti-
tuierenden österreichischen Reichstages, der infolge des Widerstandes gegen
das Oktroi auf Grund eines nahezu allgemeinen Wahlrechts aber mittels indirekter Wahlen zuerst
nach Wien berufen, nachher aber nach Kremsier verlegt worden war, zur Unfruchtbarkeit verdammt.
Auch er enthielt keinen weiteren Hinweis aut die historische Monarchie, als dass er die Länder des
Kaiserreiches bezeichnete, die nach der neuen Verfassung das Kaiser t um Österreich als kon-
stitutionelle Erbmonarchie bilden sollten; wobei die naive Erwartung obwaltete, es werde sich
Ungarn um die Autnahme in das durch den Entwurf geplante bundesstaatsähnliche
Gemeinwesen bewerben.
Es verstand sich darum von selbst, dass die Reaktion sowohl im Kampfe gegen die revo-
lutionäre Bewegung als auch nach deren Niederringung beider Unvollziehbarkeit sowohl
des ungarischen Gesetzartikels III.: 1848 als auch des Entwurfes der Kremsierer Verfassung imHin-
blick auf die die Unteilbarkeit und Untrennbarkeit aller Länder des
Hauses Österreich fordernde pragmatische Sanktion und die hierdurch ge-
botene Kontinuität der historischen Verbandseinrichtungen an-
setzte. Hatte schon das Manifest über den Regierungsantritt Kaiser Franz Joseph I. vom
2. Dezember 1448 den Entschluss des jungen Herrschers, die Gesamtmonarchie unge-
schmälert zu erhalten und dessen Hoffnung auf Vereinigung aller Länder und Stämme zueinem
grossen Staatskörper ausgedrückt, so rechtfertigte das kaiserliche, die Reichsverfassung
für das Kaisertum Österreich vom gleichen Tage verkündigende Manifest vom
4. März 1849 die am 7. März erfolgte Sprengung des Kremsierer Reichstags nicht bloss mit dessen
durch die Festsetzung der Volkssouveränität bekundeten Doktrinarismus sondern auch mit dessen
Unzuständigkeit für die Beratung einer von den Völkern Österreichs als unabweisbare Notwendig-
keit empfundenen, das ganze Reich im Gesamtverbande umschliessenden Verfassung. In der Reichs-
verfassung vom Jahre 1849 (Märzverfassung Schwarzenberg-Stadionsche Verfassung) war die bei
Vilagos am 13. August 1849 erfolgte Kapitulation der ungarischen Revolutionsarmee gewisser-
massen eskomptiert.
Die ungarische Verfassung wird nur im engen Rahmen ihrer Vereinbarkeit mit
der neuen Reichsverfassung aufrecht erhalten ($71). Der Verband der sogenannten
Nebenländer mit dem engeren Ungarn wird als gelöst behandelt. ($$ 68, 72—75.) Man pflegt
diese Liquidation mit der Anwendung der von Hugo Grotius gelehrten Verwirkung der Verfassung
eines gegen seinen Monarchen sich erhebenden Volke im Falle seiner Überwältigung zu erklären.
Allein auch vom Standpunkte modernen Staatsrechts durfte der Verband der Nebenländer mit
Ungarn — und hierbei kommt vornehmlich das Königreich Kroatien — Slavonien — Dalmatien
in Betracht — zum mindesten von dem Zeitpunkt als erloschen betrachtet werden, in welchen
die ihm zugrunde liegende monarchische Verbindung durch die unter Ludwig Kossuth’s
Führung am 14. April 1849 vom ungarischen Reichstag ausgesprochene Absetzung des
Kaisers und der ganzen Dynastie gelöst worden war. Findet doch auch die Erhebung der
Südslaven gegen die ungarische Verfassung des Jahres 1848 unter der Führung des kroatischen
Banus Jellacie ihre staatsrechtliche Erklärung in der Unzuständigkeit des ungarischen
Reichstags, ohne Zustimmung des kroatischen Landtags eine fundamentale Änderung
der rechtlichen Beziehung Kroatiens zu Ungarn durch Unterstellung des Banus unter eine
dem Reichstag verantwortliche konstitutionelle Regierung zu beschliessen. Mit
der Ausdehnung (des in der österreichischen Aprilverfassung zum erstenmal ausgesprochenen)
auf die Rousseau’sche Staatslehre zurückzuführenden Grundsatzes der Gleich-
berechtigung aller Nationalitäten und Sprachen auf das ganze
Reich und mit der Forderung eines Statutes für die Regelung dieser Ver-
hältnisse ($$ 5, 71) wird ein. Staatsrecht formuliert, das mit Modifikationen der modernen