Friedrich. Tezner, Entwicklung des Parlamentarismus in Osterreich-Ungarn. 415
Verfassungsschranke der österreichischen Ländergruppe aufgestellt, den ehemals engeren Reichsrat
zum verfassungsmässigen Reichsrat der nichtungarischen Länder erhoben und zur Konformierung
ihrer Verfassung mit seinem bei den Ungarn durchgesetzten Kompromiss berufen, er hat die
deutsch-zentralistische Partei den modernen Rechtsstaat errichten lassen und sie zertrümmert,
als sie sich als parlamentarische Macht aufspielte, er hat die Arbeiterbataillone vor den tagenden
Reichsrat vorüber ziehen lassen, um für die Notwendigkeit des allgemeinen gleichen Wahlrechts zu
demonstrieren und Ungarn durch das Aufwerfen des gleichen Problems zur Besinnung gebracht;
er hat die Notverordnung zur subsidiären, die Unschädlichkeit der Obstruktion sichernden Gesetz-
gebung erhoben ; seine Annexionsakte allein sind es, die Bosnien und die Herzegowina mit der Mo-
narchie verbinden, da die beiden Parlamente sich für ihre staatsrechtliche Perfektion unfähig
erweisen; er hat eine Verfassung für die annektierten Länder erlassen, ohne sich auf eine aus-
drückliche Verfassungsermächtigung berufen zu können und für die durch die deutsche Obstruk-
tion zerstörte Landesselbstverwaltung Böhmens sofort durch Ordonnanz ein Ersatzorgan geschaffen.
Er vermag, die Monarchie als Staat den Staaten entgegenzustellen, ungeachtet die formale
Jurisprudenz diesen Staat nirgend schen will.
Jedenfalls ist die Monarchie für die politische Schätzung als eine patrialarchalisch, in den
äusseren Formen desKonstitutionalismus regierter und nur d.n Schein zweier Staaten bietender
monarchischer Einheitsstaat zu betrachten. Weil die Völker der Monarchie trotz ihres
durch ethnische, kulturelle, wirtschaftliche und politische Gründe bewirkten Zusammenschlusses
bis nun kein für eine Konstituante fähiges Staatsvolk geworden sind, bilden sie nur ein Organisations-
objekt. Der Dualismus ist das vorläufige Ergebnis organisatorischer, mittels dikta-
torischer und halbdiktat orischer Akte vollzogener Experimente des Monar-
chen. Er findet ganz wie die als seine unselbständige Reflexwirkung zu werterde österreichische
Dezemberverfassung seine Garantie in der Zersplitterung der national-föde-
ralistischen Programme,die nur vom Standpunkte der einzelnen
Nation aufgestelltwerdenund das Ganze aus denÄugen verlieren,
und gibt, was seltsamer Weise die der ungarischen Unabhängigkeitspartei angehörige Minorität
des Ausschusses zur Beratung des Ausgleichs in ihrem Gegenentwurf geradezu ausdıücklich ge-
fordert hat, dem Monarchen den Stichentscheidin die Hand, der nicht nach Rechtsnormen
sondern gemäss der jeweiligen Gestaltung der politischen Verhältnisse gefällt wird. Das Rechts-
leben der Monarchie bietet uns nicht Verfassungsänderungen und Verfassungswandlungen, sondern
unberechenbare äussere Verfassungsfluktuationen, die jedoch an
ihrem inneren Wesen nichts zu ändern vermögen. Die Erinnerung an das unorganische Leben des
Ständestaates mit seinen durch ständische Rivalitäten zerklüfteten, von Sezessionen heimge-
suchten Landtagen, mit seinen stetigen Verfassungsrevisionen taucht unwillkürlich auf. Hier ist
darum, was allmählich auch die magyarischen Publizisten einzusehen beginnen, kein Bcden, auf
dem formal juristische Konstruktionen und die Theorie vom absoluten Rechts- oder Ver-
fassungsstaat zu gedeihen vermöchte, es sei denn, dass man die durch die pragmatische Sanktion
dem Monarchen in die Hand gelegte koerzitive Funktion, diese welthistorische,an das
Caveant consuleserinnernde, ausdem Urquell des Rechts der Monarchie und deren
Mysterium fliessende Generalvollmacht, kraft deren er alle Lärder des Hauses Oesterreich unzer-
trennt und ungeteilt beisammenhalten, oder wie sich die Proklamation des österreichischen Kaiser-
titels vom 11. August 1804 ausdrückt, Regent der Monarchie von Oesterreich (Monarchiae
Austriacae regnans princeps) sein soll, als zwingendes Recht anerkennt,dem
gegenüberalles dieser Funktion widerstrebende Recht als recht-
lich unmöglich oder nichtig oder mindestens als unvollziehbar
zu behandeln ist.