Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

J. Hatschek. Die parlamentarische Regierung. 419 
Im 19. Jahrhundert seit 1832 etwa, als das Unterhaus die Finanzverwaltung schärfer zu 
kontrollieren begann und sich der Grundsatz der Parlamentspraxis entwickelte, dass die geldspen- 
denden Zentralstellen im Unterhaus vertreten sein müssten, bewirkt sogar die Parlamentspraxis 
eine Konsolidation und Umgestaltung von Aemtern, die Etablierung der Hierarchie unter den 
Zentralstellen und wandelte die bis dahin kollegialen Zentralstellen in solche mit bürokratischer 
Spitze um (siehe mein englisches Staatsrecht II, S. 132ff.).. Um an einem Beispiel die grosse 
Bedeutung der Parlamentspraxis darzustellen: dass die Landessteuerdirektion die Zolldirektion, 
die königliche Münze, die Staatsdruckerei, die Zentralstelle für Domänen und Forsten, das General- 
postamt u. a.m. dem Schatzamt untergeordnet sind, ist nirgends gesetzlich sanktioniert, sondern 
durch Parlamentspraxis gefordert und von der Regierung anerkannt. 
Die Parlamentspraxis hat aber in England auch im 19. Jahrhundert wichtige Verfassungs- 
umbildungen besorgt. 
urch Parlamentspraxis allein ist die Gesetzesinitiative heute ausschliesslich in Händen der 
Regierung. Durch Parlamentspraxis (Resolutionen von 1860, siehe mein engl. Staatsrecht S. 248) 
wurde die Zustimmung der Lords zu Finanzgesetzen beinahe vollständig ausgeschaltet, Durch 
Parlamentspraxis wurde die Budgetbewilligung einfach zu einem Stück der Finanzverwaltung des 
Reichs, ausgeübt durch das Unterhaus (siehe mein engl. Staatsrecht I S. 460 ff.). Einfach auf dem 
Wege einer standing order von 1852 des Unterhauses erfolgte die wichtige Verfassungsumbildung, 
dass keine Geldbill anders als auf Initiative der Regierung eingebracht werden darf. Durch parla- 
mentarische Resolution von 1761 ist der Verfassungsgrundsatz aufgestellt, dass die bewilligten 
Geldausgaben nur innerhalb des Finanzjahres gemacht werden dürften. (siehe mein engl. Staats- 
recht I S. 544). Die wichtigste Verfassungsumbildung ist einerseits die Einschnürung der könig- 
lichen Prerogative durch die lex Parliamenti, da seit 1707 noch kein englischer König einem vom 
Parlament beschlossenen Gesetzentwurf die Zustimmung verweigert hat und somit das Veto der 
Krone im Plenum als obsolet zu betrachten ist, andererseits die sogenannte Verfassungsreform von 
1911 1 and 2 Geo 5 Cap. 13, welche den Widerstand des Oberhauses gegen Finanzreformen über- 
haupt ausschaltete und in anderen Fragen auf ein suspensives Veto hinabdrückte. Man wende nicht 
ein, dass diese Verfassungsumbildung doch durch Gesetz also auflega lem Wege erfolgte, während 
wir in vorhergehenden die blosse Parlamentspraxis als verfassungsbildende Kraft bezeichneten : Denn 
zunächst war dies schon vorher Parlamentspraxis und ist nur noch vom Gesetzgeber von 1911 aus- 
drücklich legalisiert worden, aber auch die in dem Gesetze liegende Verschärfung gegenüber der 
früheren Praxis ist materiell bloss durch den Willensschluss des Unterhauses zustande gekommen, 
auf Grund von Resolutionen, deren wichtigste am 24. Juni 1907 im Unterhaus gefasst?) wurde und 
die Richtschnur für die Verfassungsreform bildete. Dem Oberhaus, das gegen die Verfassungsreform 
Widerspruch erhoben hatte, wurde mit einem Peerschub gedroht, und der König kam mit seiner Ein- 
legung des Vetos überhaupt nicht in Frage. Die Vorherrschaft des Unterhauses und seiner Parla- 
mentspraxis über das Oberlıaus ist sonach durch die Verfassungsreform von 1911 nunmehr zu einer 
dauernden geworden. 
Wenn ein Gesetzentwurf (also jede künftige Verfassungsreform) das Unterhaus in drei auf- 
einanderfolgenden Lesungen passiert hat und im Oberhause jedesmal verworfen oder nur mit 
Amendements, denen das Unterhaus nicht zustimmen will, angenommen worden ist, so wird der 
Gesetzentwurf dem König ohne Rücksicht auf das Oberhaus zur Sanktion vorgelegt und gilt, wenn 
er dieselbe erhalten hat, als Gesetz. Der Sprecher hat bei der Vorlage des Gesetzentwurfs zur 
Sanktion zu attestieren, dass die gesetzlichen Vorschriften für das Zustandekommen des Gesetzes, 
wie sie die Verfassungsreform von 1911 vorschreibt, beobachtet worden sind. Noch weniger Um- 
stände werden mit dem Oberhaus bei einem Gesetzentwurf, der die Finanzen und das Budget be- 
®) Sie lautet sehr bezeichnend in der Form, wie sie der Premierminister einbrachte (Parl. Deb. 4. series vol. 
176 p. 909). „.Tbat, inordertogive effect tothewillofthoepeopleasexpressed bytheir 
elected representatives, it is necessary that the power of the other House to alter or reject Bills passed 
by this House should be so restricted by law as to seoure that within the limits of a single Parliament the final 
decisionofthe Commons shall prevail.“ 
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