Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

420 J. Hatschek, Die parlamentarische Regierung. 
trifft, gemacht, wenn das Oberhaus widerspenstig ist. Hat ein solcher Gesetzentwurf das Unterhaus 
passiert und ist vom Oberhaus, nachdem er hier spätestens 1 Monat vor Schluss der Session ein- 
gelangt war, überhaupt nicht oder nur mit Amendements angenommen worden, so wird der 
Entwurf ohne Rücksicht auf die etwaigen Amendements des Oberhauses dem Monarchen zur 
Sanktion vorgelegt und gilt, wenn diese erteilt worden ist, als Gesetz, trotzdem er die Zustimmung 
des Oberhauses nicht erhalten hat. Der Sprecher hat bei der Vorlage des Entwurfs zur Sanktion 
auf der Rückseite derselben zu attestieren, dass der Entwurf eine Money bill im Sinne des Ge- 
setzes sei. 
So ist die Vorherrschaft des Unterhauses und seiner Macht durch Unterhausbeschlüsse 
allein die Verfassung umzubilden, dauernd gesichert. 
Auch in Frankreich ist die parlamentarische Regierung auf dem Wege der Parla- 
mentspraxis entstanden.?) 
Nichts wunderbarer als dieser Prozess! Ein mit allen Vorurteilen der absoluten Monarchie 
ausgerüsteter König kommt zur Regierung: Ludwig XVIII, der in der Vorrede zu seiner dem Volke 
geschenkten Verfassung (,„Charte‘ von 1814) ausdrücklich sagt, dass in seiner Person die gesamte 
Staatsgewalt vereinigt sei und er nur in der Ausübung der legislativen Gewalt vom Parlament 
beschränkt sein wollte (‚Bien que l’autorite toute entiere r&sidät en France dans la personne du roi, 
nos pred£cesseurs n’avaint point hesite a en modifier ’exereice‘), und der sich trotz alledem einem 
parlamentarischen Regierungssystem anbequemen muss? Einfach die Macht der juristischen 
Logik unterstützt von dem Vorbilde der englischen Verfassung, die damals ein ebenso faszinierendes 
Vorbild war wie das römische Recht zur Zeit seiner Rezeption, hat dies bewirkt. Sehen wir uns 
diesen juristischen Prozess näher an, so finden wir, dass er an die recht dürftigen Bestimmungen der 
Charte über Ministerverantwortlichkeit und die Befugnis des Parlaments Steuern zu bewilligen, 
anknüpft. Aus dem Rechte der Steuerbewilligung folgert der Finanzminister Baron Louis selbst, 
dass dem eine Einigung über die zu deckenden Ausgaben, also eine Ausgabenbewilligung voran- 
gehen müsse; damit ist dann notwendig eine Kontrolle der Verwaltung insbesondere auf die Zweck- 
mässigkeit ihrer Ausgaben hin gegeben. Aber auch die Adressen an den König dienen diesen Zwecken, 
der Kritik der Minister und ihrer Handlungen, desgleichen das durch die Charte (Art. 53) gewähr- 
leistete Recht der Petitionen. Das Recht zur Einrichtung von Unt hungsl issi und 
zu Interpellationen wird als notwendiges Korrelat der durch die Charte übrigens nur strafrechtlich 
vorgesehenen Ministerverantwortlichkeit betrachtet. So entstehen die wichtigsten modernen 
Kontrollemittel bloss durch die Macht der parlamentarischen Logik. Das alles ereignete sich gleich 
zu Anfang der Regierung Ludwig XVIII, so dass der Politiker und Minister Vitrolle die aufkommende 
Notwendigkeit eines Ministerwechsels entsprechend der Parlamentsmajorität als „une consequence 
rigoureuse du systeme constitutionel“ bezeichnete. Aus der Macht jener „Logique parlementaire‘“ 
entwickelte sich aber auch jene innere Kohärenz des Ministeriums, die zum Kabinettbegriff nötig 
ist, Aus dem Staatsrat kristallisiert sich zunächst der Ministerrat, Prinzen und andere Dignitäre 
werden ihm nicht zugezogen, die Einheit („unit&‘‘) des Ministeriums von Ludwig XVIII schon in 
der Deklaration von Cambrai nach den „Hundert Tagen“ im Jahre 1815 zugesagt, wird als Grund- 
satz der Solidarität und Gleichgesinnung der Minister verstanden. Das Amt desMinisterpräsidenten, 
auch ohne weitere Administrationsgeschäfte als die der obersten Kontrolle der Ministerkollegen, 
bildet sich seit dem zweiten Ministerium Richelieu heraus, dagegen wird das noch an das „persön- 
liche Regime‘ desMonarchen erinnernde Staatssekreteriat, das im Sinne des Königs die Beziehungen 
der Minister untereinander erhalten sollte, unterdrückt, der Minister des königlichen Hauses wird 
aus dem engeren Ministeriat ausgeschieden, in das Parlament werden Gehilfen der Minister die 
Unterstaatssekretäre eingeführt, die nicht etwa zur Leistung administrativer Arbeit, sondern zur 
„Leitung“ der beiden Häuser, also zu rein politischer Arbeit angestellt sind. Noch ist man nicht 
so weit, die Minister unbedingt der Parlamentsmajorität zu entnehmen, aber schon im Jahre 1820 
schafft man das Institut der Minister ohne Portefeuille, um wenigstens diese aus der Parlaments- 
?) Sioho darüber Barthölemy L’introduction du regime parlemantaire en France 1904. und mein allgem. 
StR. I (1909) 30 £f.
	        
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