Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

30 Karl Lamprecht, Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte. 
derte sich schon sehr weit entfernt hatte. Da nun offenbar ein wirklich wohlfundamentierter moderne 
Staat nur auf Grund starker wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandlungen entstehen konnte, 
so hatten von vornherein diejenigen, welche, wie besonders Friedrich IV., vielmehr einen Aufbau 
auf Grund der bestehenden Verhältnisse und damit im Grunde noch nach der sozialen Dreiteilung des 
Mittelalters befürworten, eigentlich das Recht der Wirklichkeit für sich. In der Tat gelang es auch 
den liberalen Parteianschauungen nicht, diesem ständischen Programm der Konservativen aus den 
Voraussetzungen der eigenen Entwicklung her ein anderes gleich klares und sicheres Programm ent- 
gegenzusetzen. Sie sahen sich vielmehr darauf reduziert, irgendwelche Formen des Programms 
des französischen Liberalismus herüberzunehmen. In dieser Situation hätte der Liberalismus wohl 
am Ende den kürzeren ziehen müssen, wäre ihm nicht zweierlei im höchsten Grade zu Hilfe ge- 
kommen. Einmal nämlich war er doch im Grunde der unbedingte Ausdruck der immer mehr im 
Leben der Nationen zu ihrem Rechte gelangenden subjektiven Persönlichkeit und besass insofern 
ein Erstgeburtsrecht für die politische Zukunft. Dann aber war er aus den eben erwähnten Zusam- 
menhängen heraus der ligitime Vertreter des Gedankens einer künftigen Einheit der Nation. In 
diesem Zusammenhange war cs gegeben, dass er von dem Augenblicke an, da diese Einheit immer 
lebhafter erstrebt wurde, und das heisst wesentlich seit Beginn der vierziger Jahre, Oberwasser er- 
hielt, bis er in den Revolutionen von 1848 49 und in den aus ihnen hervorgehenden Verfassungen 
weiterhin siegt, wenn auch die Einheit des Reichs auf liberaler Grundlage damals noch nicht er- 
rungen wurde. 
Inzwischen aber war auch aus den kirchlichen Verhältnissen heraus eine Partei hervorzu- 
gehen im Begriffe, die immer mehr bis zur Gegenwart hin eine sehr beträchtliche Rolle ge- 
spielt hat. Es lag in der Natur der Dinge, dass das eigentliche Programm der modernen subjektiven 
Persönlichkeit, die Durchbildung der Sekte, sich gegenüber den alten Kirchen des europäischen 
Kontinents, und insbesondere Deutschlands, nicht so ohne weiteres verwirklichen liess. Zwar 
machten sich in den beiden Kirchen von besonderer Gebundenheit, der lutherischen und der katho- 
lischen, gelegentlich separatistische Strömungen geltend, aber von irgendwelcher grossen Bedeutung 
sind sie bisher nicht geworden. Das Programm des kirchlichen Liberalismus als des eigentlichen 
Vertreters des Subjektivismus erschöpft sich vielmehr bisher in der immer stärkeren Betonung der 
Lösung von der freien Kirche im freien Staate. Und täuscht nicht alles, so wird in der Tat von diesem 
Worte her eine neuere Verfassungsentwicklung kirchlichen Charakters beginnen. In den alten Kir- 
chen wurde die öffentliche Wirksamkeit, die uns bier in Zusammenhange mit der Entwicklung des 
Staates allein beschäftigt, im Bereiche der lutherischen Kirche durch eine die Gemeinde bevor- 
mundende Orthodoxie gelähmt. In der katholischen Kirche dagegen traten Vorgänge ein, die nur 
von einer weiten kulturgeschichtlichen Perspektive aus verständlich werden können. Es handelt 
sich um die allen katholischen Staaten Europas gemeinsame Erscheinung des modernen Klerikalis- 
mus. Es gehört zu den bekanntesten Tatsachen auf kulturgeschichtlichem Gebiete, dass einmal ent- 
wickelte Kulturbildungen in der menschlichen Gemeinschaft, der sie angehören, bis zu deren Verfall 
nicht wieder völlig zugrunde gehen. So lebt z. B. im deutschen Bauerntum noch ein gutes Stück 
des Geistes der deutschen Urzeit deutlich fort. So sind die Tendenzen des Luthertums in vielen 
Köpfen noch fest in der Form des 16. Jahrhunderts verbreitet. Es versteht sich daher von selber 
dass die besondere Form des Christentums, die in der katholischen Kirche des Mittelalters entwickelt 
worden war, nicht mit diesem Mittelalter zugrunde ging, sondern in den unteren Kreisen der katho- 
lischen Laien fortlebte. Nun gestaltete sich aber dieses Fortleben durch einen besondeien Umstand 
herivorragend günstig. Die katholische Kirche hat bekanntlich nach der Reformation in dem Triden- 
tinsichen Konzil auch ihrerseits eine Art von Erneuerung erlebt. Vornehmlich geschah dies auf dem 
Gebete der Exegese und der Dogmatik. Für den Kult und das religiöse Leben der Laien dagegen 
traten an Stelle einer direkten Erneuerung die merkwürdigen leidenschaftlichen Formen des reli- 
güösen Lebens der spanischen Kirche, die ihrerseits aus gewissen Beformationsbestrebungen schon 
des 15. Jahrhunderts entstanden waren, andererseits aber in sich die ganze sinnliche Glut des mittel- 
alterlichen, auf eine ständige Kampfstellung gegenüber Heiden eingerichteten Katholizismus ent- 
hielten. Diese Formen, wie sie in dem Prunk der katholischen Barockkirche und dem Pomp der 
Prozessionen, wie in den sinnlich reizenden Darstellungen der Heiligenbilder des 17. und 18.
	        
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