436 Hermann Rehm, Wahlrecht.
Die Abstufungen des ungleichen Wahlrechts werden entweder durch Einteilung der
Bevölkerung in Wählergruppen (Abteilungen, Kurien, Klassen: Klassen-
wahlrecht) oder durch Übertragung mehrerer Stimmen an einen Wähler (Plural-
Wahl-Mehrstimm-Recht) oder durch ungleiche Wahlkreiseinteilung herbeigeführt. —
Eine Wöählerklasse kann allgemeine heissen. Trotzdem ist das Wahlrecht ungleich, wenn
die Sonderklassen nicht nur ein verschwindendes Stiimmgewicht besitzen.
IX. Wahlrechtssysteme. Es gibt deren vier: 1. zuerst beschränktes
und ungleiches Wahlrecht; noch gilt es in Grossbritannien, Russland, beiden Reuss, Alten-
burg, Lübeck, Hamburg; dann allmählich entweder 2. beschränktes, aber gleiches
Wahlrecht: in Deutschland nicht mehr vorhanden, aber in Ungarn-Kroatien, Luxemburg,
Serbien, Italien (Analphabeten, d. h. wer nicht lesen und schreiben kann, wahlberechtigt
erst mit 30 Jahren, vorlıer nur, wenn die Dienstpflicht erfüllt), oder 3. allgemeines, aber
ungleiches Wahlrecht. Das System findet sich in Belgien und Österreich, für
Deutschland gesetzlich in Preussen, Bayern, Sachsen, Baden, Hessen, Schwarzburg, Schaum-
burg-Lippe, Weimar, Meiningen, Lippe, Anhalt, Bremen, Braunschweig, Oldenburg, Koburg-
Gotha; tatsächlich im Reiche, weil die Wahlkreise der Bevölkerungsziffer nach zu ungleich
geworden sind. Die Ungleichheit besteht gewöhnlich in Klassenwahl; im Reich, in Öster-
reich, Bayern und Baden in der Wahlkreiseinteilung (im Reich und Bayern das Land, in
Baden die Städte bevorzugt); in Preussen in Klassenwahl und Wahlkreisziffer, in Sachsen
und Oldenburg in Pluralwahl und Wahlkreiseinteilung, in Hessen nur in Mehrstimmrecht.
In Oldenburg hat der 40 Jahre alte Wähler eine Alterszusatzstimme und 28 Abgeordnete
werden in zwei-, 14 in einmännigen, 3 in einem dreimännigen Wahlkreise gewählt. 4. All-
gemeines und gleiches \ ahlrecht. Dem Buchstaben nach gilt es im Reiche,
in Frankreich, Spanien, Norwegen, Dänemark, Schweiz, Griechenland. In Frankreich und
im Reiche ist es durch die stark verchiedene numerische Entwickelung der Wahlkreise un-
gleich geworden. Württemberg und Elsass-Lothringen sind die einzigen Länder, wo Gleich-
heit auch für die Wahlkreise tatsächlich herrscht.
X. Deutsches Reich. Wie bei jedem Wahlrechte, gilt auch beim Reiehswahlrechte,
dass es ausser von positiven von gewissen negativen Voraussetzungen (Disqualifikationen)
abhängt. Wähler zum deutschen Reichstage ist wohl jeder 25 Jahre alte Deutsche, der in
einem Bundesstaate wohnt, in diesem Bundesstaate, aber nur, wenn er nicht unter Vormund-
schaft. steht, nicht im Konkurse sich befindet, im letzten der Wahl vorangegangenen Jahre
keine öffentliche Armenunterstützung erhielt, und die bürgerlichen Ehrenrechte nicht verlor.
(Reichswahlgesetz v. 31. Mai 1869.) Als öffentliche Armenunterstützung gelten seit Reichs-
gesetz v. 15. März 1909 nicht Krankenunterstützung, Anstaltspflege Angehöriger, Erziehungs-
beihilfen, Unterstützung in augenblicklicher Notlage, zurückgezahlte Unterstützungen. Wähl-
bar ist im Reiche 1. jeder Wahlberechtigte, der einem Bundesstaate seit einem Jahre an-
gehört, 2. Ausländer und Eingeborene in den Schutzgebieten, die dort die Reichsangehörigkeit
durch Naturalisation erwarben. Der Wahlkreiseinteilung liegt der Rechtssatz zugrunde:
„jeder Wahlkreis muss 1864 durchschnittlich 100000 Seelen gehabt haben.“ Der Satz gilt
noch, aber schon seit mehr als zwei Jahrzehnten bilden 100000 Seelen nicht mehr die Durch-
schnittsziffer. Augenblicklich ist der Durchschnitt 180000.
XI. Preussen. Wahlberechtigt zur zweiten Kammer ist bereits nach der Wahl-
ordnung vom 30. Mai 1849 jeder 24 Jahre alte Preusse in der Gemeinde, in der er seit
6 Monaten wohnt oder sich aufhält. Von Anfang an war die Zahlung einer direkten Steuer
keine Voraussetzung. Trotzdem sind die Klassen, nach denen sich das Wahlrecht abstuft,
nicht Berufs-, Bildungs-, Alters-, Stadt-, Land-, sondern Steuerklassen und zwar reine. Das
ist nur dudurch möglich, dass diejenigen, die keine direkten Steuern zahlen, wählen dürfen.
Sie wählen in der dritten Klasse. Die Einteilung in drei Steuerklassen bedeutet nicht von
selbst: auf jede Klasse entfällt dieselbe Steuersumme. Die Einteilung in Klassen ist Ein-
teilung der Wähler. Die Einteilung besagt daher nicht notwendig: die Klassen haben gleiche
Steuer-, bei Bildungsklassen gleiche Bildungskraft; sondern die Einteilung besagt notwendig