73 S. Brie, Entstehung und Untergang der Staaten.
2. Vielfach hat man einen allgemeingültigen Rechtsgrund für die Existenz
aller einzelnen Staaten aufgestellt. Von den hierhergehörigen Theorien haben die Patriarchal-
und die Patrimonialtheorie niemals eine bedeutende Verbreitung erlangt, und sie bedürfen
auch keiner eingehenden Widerlegung, da sie eine zuweilen vorgekommene Art faktischer Entstehung
von Staaten (vgl. oben II 2 und 3 b) irrig für eine allgemeine rechtliche Entstehungsart erachten.
Eine grosse Bedeutung haben dagegen zeitweise gewonnen die Theorie der göttlichen Stiftung, die
Machttheorie und die Vertragstheorie.
a) Die Theorie der göttlichen Stiftung behauptet, dass Gott, indem er durch
seine Fügung einen Staat entstehen bezw. längere Zeit fortbestehen lasse, demselben und dem darin
herrschenden Willen seine Sanktion verleihe, wodurch die Mitglieder zum rechtlichen Gehorsam
gegenüber der bestehenden Staatsordnung verpflichtet würden. Diese Theorie aber verwechselt
vor allem die religiöse Verpflichtung mit der rechtlichen. Ferner ist nicht einzusehen,
weshalb Gott den bestehenden Zustand, auch wenn dieser in einer vom Standpunkt des mensch-
lichen Rechts nicht rechtmässigen Weise entstanden ist und wenn er zudem vielleicht den
konkreten vernünftigen Bedürfnissen der betreffenden Menschengruppe widerspricht, in seinen
besonderen Schutz nehmen soll.
b) Die Machttheorie in ihrer rohesten Gestalt kann nur als eine Verhöhnung der
Rechtsidee bezeichnet werden. Die meisten neueren Anhänger dieser Theorie aber gründen ihre
Behauptung, dass jeder faktisch bestehende Staat auch rechtmässig sei, auf die allgemeine Ver-
nunftsnotwendigkeit des Staats und nehmen demgemäss in ihre Definition der Macht bezw. des
konkreten Staates das Erfordernis der Verwendung der Macht im allgemeinen Interesse auf. Aber
dadurch wird noch nicht erklärt, weshalb die faktisch der konkreten Staatsgewalt unterworfenen
Menschen ihr gegenüber zum Gehorsam rechtlich verpflichtet sein sollen, zumal wenn die neue
Staatsbildung sich im Widerspruch zum bisherigen Rechte vollzogen hat.
c) Die aus alten Wurzeln entsprossene, in der Neuzeit lange Zeit vorherrschende Ver -
tragstheorienimmtan, dassein Staatrechtsgültig nur durch einen Vertrag resp. durch mehrere
Verträge von Individuen entstehen könne. Insofern eine solche Entstehung geschichtlich höchstens
ganz vereinzelt für konkrete Staaten nachgewiesen werden kann, erscheint die Annahme, dass die
konkreten Staaten zumeist (nämlich soweit ihnen überhaupt eine rechtliche Existenz zukommt)
auf einem solchen Rechtsgrund beruhen, als eine Fiktion. Irrig ist auch die dieser Theorie zu-
grunde liegende Voraussetzung, dass der menschliche Wille in keiner anderen Weise als mit seiner
freien Zustimmung rechtlich beschränkt bezw. einem anderen Willen unterworfen werden könne.
Immerhin bekundet sich in dieser Theorie die richtige Erkenntnis oder Empfindung, dass die stast-
lichen Beziehungen zwischen den Menschen keinen von allen übrigen rechtlichen Verhältnissen
spezifisch verschiedenen Rechtsgrund haben können. Dagegen erscheint die in neuester Zeit von
hervorragenden Philosophen und Juristen verfochtene Behauptung, dass die Entstehung eines
Staates durch Vertrag unmöglich sei, als Ausfluss teils einer unrichtigen Würdigung des Vertrags,
indem man diesen als einen Akt reiner Willkür statt als ein Mittel zur Befriedigung der vernünf-
tigen Bedürfnisse der Menschen auffasst,teils einer zu engen Begrenzung des Vertragsbegriffs. indem
man dem Vertrage nur eine obligatorische Wirksamkeit oder nur eine Bedeutung für die Anwendung,
nicht auch für die Entstehung objektiven Rechts zuerkennt.
3. Rechtlich kann ein Staat nur in derselben Weise zur Entstehung kommen, wie überhaupt
unter den Menschen rechtliche Beziehungen sich bilden und insbesondere juristische Personen zur
Existenz gelangen. d.h.vermöge einesRechtssatzes. Insofernaber nicht leicht Rechts-
sätze im voraus die Entstehung von Staaten in zukünftigen unbestimmten Fällen regeln werden,
erlangen Staaten rechtliches Dasein regelmässig unmittelbar durch einen Rechts-
satz. Ein solcher Rechtssatz kann ein Ausfluss jeder Rechtsquelle sein; er kann demgemäss
auf bewusster oder unbewusster Rechtsbildung beruhen und insbesondere, insofern es sich um be-
wusste Schaffung eines staatlichen Verbandes und Gesamtwillens handelt, sowohl Inhalt eines Ver-
trags als eines Gesetzes sein.