Friedrich Zahn, Das Deutsche Volk. 179
für ein neugeborenes Kind die gleiche Wahrscheinlichkeit besteht, vor dem durch die wahr-
scheinliche Lebensdauer angezeigten Alter zu sterben, wie auch diese Altersgrenze zu über-
schreiten. Nach der Sterbetafel von 1871.80 betrug diese Zel.] beim männlichen Geschlecht
38,1 Jahre, beim weiblichen 42,5 Jahre, bis 1901,10 war sie auf eine Höhe von 55,2 bezw.
60,6 Jahren angewachsen.
Was besonders bedeutsam erscheint, an der in diesen Zehlen zum Ausdruck kommenden
allgemeinen Besserung der Sterbeverhältnisse haben fast alle Altersklassen, vor allem auch die
produktiven, teil. Für die im erwerbsfähigen Alter stehenden Klassen (von 15 bis 60 Jahren)
ergibt sich seit 1871,80 eine namhafte Erhöhung der mittleren Lebensdauer, beim männlichen
Geschlecht um 2,53 und beim weiblichen Geschlecht um 2,46 Jahre. Es werden also von
diesen produktiven Klassen jetzt durchschnittlich 21, Jahre mehr durchlebt als vor 30 Jahren.
Hieraus ergibt sich allein für das männliche Geschlecht ein Gewinn von 12/, Millionen Arbeits-
jahren in jeder Generation.
Der Vorteil, der hierdurch erreicht ist sowohl vom Standpunkt der Privatwirtschaft wie
für den Staat, liegt auf der Hand. Er beruht nicht nur in der längeren Erhaltung der wertvollen
Arbeitskraft des Einzelnen, sondern auch in der längeren Verwertbarkeit der reichen, kostbaren
Erfahrungen, über die das höhere Lebensalter verfügt, und die vom Standpunkt der Interessen des
Staates und der Gesellschaft so hochwillkommen sind. Die Verlangsamung des Generations-
wechsels, das längere Zusammenleben und die intensivere Wechselwirkung der einzelnen Genera-
tionen bedeutet eine grössere individuelle und gesellschaftliche Ausnutzung der Lebensarbeit und
ihrer Erfolge und eine gesichertere Übertragung der Errungenschaften der einen Generation
auf die nächstfolgende. Es wird, wie Heinrich Rauchberg gelegentlich sich ausdrückt, ein
Maximum der Bevölkerung und Kultur durch ein Minimum von persönlichem Wechsel erstellt.
Diese trotz der aufreibenden Hast des modernen, insbesondere städtischen und industriellen
Erwerbsi bens eingetretene günstige Gestaltung unserer Lebensdauer steht in innigem Zu-
sammenhang mit den hervorragenden medizinischen Fortschritten sowohl in bezug auf Bekämpfung
und Heilung der Krankheiten wie in bezug auf die Hygiene (Kanalisation, Wasserleitung, Des-
infektion) und die prophylaktischen Massnahmen (vor allem gegen die Volkskrankheiten, z. B.
Tuberkulose). Weiter war von Einfluss die bessere Versorgung der Bevölkerung mit Ärzten und
entsprechenden gut geleiteten Krankenhäusern und nicht zuletzt die Arbeiterschutz- und
Arbeiterversich gs-Gesetzgebung, deren Seele bekanntlich die Prophylaxis ist und die gerade
dadurch wesentlich mithilft, dem Arbeiter die Gesundheit, der Nation die Lebenskraft zu erhalten.
Neben dieser zielbewussten Gesundheitspflege spielt die mit der Zunahme des Volkswohlstandes
ermöglichte instinktive Verbesserung unserer Ernährungs-, Wohnungs- und Pflegeverhältnisse
eine Rolle.
Im 1. Lebensjahr Gestorbene (ohne Totgeborene)
Jahr auf 100 Lebendgeborene
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überhaupt eheliche‘) uneheliche überhaupt eheliche!) | unebeliche!)
1901 420 223 361 745 58 478 20,7 19.4 33,9
192 370 799 321 055 49 744 18,3 17,3 29,3
1908 404 52 351 086 53 437 20,4 19,3 32,7
1904 397 781 72 52 809 19,6 18,6 31,4
1905 407 999 353 342 54 654 20,5 19,4 32,6
1906 374 636 324 592 50 044 18,5 17,5 29,4
1907 351 046 302 920 48 126 17,6 16,6 28,0
1908 359 022 308 680 50 342 17,8 16,8 28,5
1909 335 436 288 202 47 234 17,0 16,0 26,8
1910 311 462 267 171 44 291 16,2 15,2 25,7
1911 359 522 308 765 50 757 19,2 18,2 29,9
1) Da von den gestorbenen ebelichen Kindern einige unehelich geboren wurden, so sind die hier berech-
nesten Sterblichkeitszahlen bei den ehelichen Kindern etwas zu gross und bei den unehelichen etwas zu klein.
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