Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

29 Car! Bachem, Zentrunspartel. 
namentlich wirtschaftlichem Gebiet, indem er sich zu unhistorischem, unbesonnen fortstürmendem 
Einreissen alter Einrichtungen und Schutzwehren fortieissen liess. Der Erfolg war, dass auch die 
politisch bisher liberal denkenden gläubigen Katholiken, welche zugleich auf staatlichem Gebiet 
am historisch Gewordenen, soweit es noch gut war, festhalten wollten, in ihm sich nicht mehr wohl 
fühlten. Bismarck aber, welcher bis 1866 in schärfster Kampfstellung gegen ihn gestanden hatte, 
stützte sich jetzt auf ibn und brachte ihn zur Herrschaft. 
Dieser Reaktion gegen den gesamten Liberalismus in seiner damaligen konkreten Gestalt, 
sowohl nach dessen kirchenpolitischer wie nach dessen staatspolitischer Seite hin, entsprang der 
Gedanke einer neuen Partei. Seit dem Frühjahr 1870 wurde er in Berlin unter den alten Führern 
der Katholischen Fraktion erwogen. Im April begannen ernsthafte, beharrlich fortgeführte Vor- 
arbeiten. Als der französische Krieg von 1870/71 ausbrach, fand er unter den Katholiken dieselbe 
patriotische Begeisterung wie unter den Protestanten. Auch das neue deutsche Reich wurde von 
den preussischen Katholiken durchweg mit Jubel begrüsst, während allerdings in Bayern aus 
altüberlieferten partikularistischen Gefühlen sich Widerstand geltend machte, zumal die schroff 
zentralisierende Tendenz des Liberalismus verstimmend wirkte. Doch konute das:alles die 
Gründung der neuen Partei nicht mehr aufhalten, um so weniger, als gleichzeitig der Liberalismus 
seine katholikenfeindliche Haltung rasch verstärkte. 
So kam es zur Gründung desheutigen Zentrums. Liberale und konservativ fühlende Katholiken 
reichtensich bei ihr die Hände. Die Spaltung, welche die erste Zeit der Katholischen Fraktion gebracht 
hatte, wurde wieder überbrückt. Man wurde einig, die Neugründung jetzt als eine rein politische 
Fraktion zu gestalten ohne irgendwelche konfessionelle Beschränkung. Die ersten veröffentlichten 
Programme der neuen Partei (Aufruf Peter Reichenspergers in der Kölnischen Volkszeitung vom 
11. Juni 1870, Essener Programm vom 29. Juni, Soester Programm vom 28. Oktober) stellten sich 
zunächst fest auf denBoden der bestehenden verfassungsmässigen Zutände, ebenso später auf den 
Boden des neugegründeten Reiches. Aus dem kirchenpolitischen Bestande der früheren Katholischen 
Fraktion entnahmen sie die Forderungen des Schutzes der Rechtsstellung derkatholischen Kirche, der 
christlichen Ehe, der konfessionellen Schule und der Durchführung der staatsrechtlichen Parität 
der anerkannten Religionsgesellschaften. Aus den früheren liberalen Forderungen der Katholischen 
Fraktion übernahmen sie die Forderung der Beschränkung der Staatsausgaben, damit der Beschrän- 
kung der Steuern und Lasten und zugleich einer gleichmässigen und gerechten Verteilung derselben, 
ferner die Forderung der Dezentralisation der Staatsverwaltung auf Grundlage der Selbständig- 
keit der Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz, und endlich die Forderung der Be- 
schränkung der damals dreijährigen aktiven Dienstzeit im Heere. Daneben zeigen diese Programme 
auch echt konservative Züge, was die allgemeine Richtung der Politik anlangt. Aus der alten, im 
Kerne aufgegebenen grossdeutschen Stimmung, zugleich aus gesunden realpolitischen Erwägungen 
entstammt die Forderung, den Grundcharakter des neuen Reiches als eines Bundesstaates zu be- 
wahren und die zentralisierende Tendenz des Liberalismus abzuwehren. Neu hinzugefügt wurden 
wirtschafts- und sozialpolitische Forderungen: Ausgleichung der Interessen von Kapital und Grund- 
besitz, sowie von Kapital und Grundbesitz einerseits und der Arbeit andererseits, Erhaltung und 
Förderung eines kräftigen Mittelstandes in einem selbständigen Bürger- und Bauernstand, Freiheit 
für alle den gesetzlichen Boden nicht verlassenden Bemühungen zur Lösung der sozialen Frage, 
gesetzliche Beseitigung solcher Übelstände, welche den Arbeiter mit moralischem oder körperlichem 
Ruin bedrohen. Die späteren Programme der Fraktionen wurden kürzer und allgemeiner gefasst, 
was sich in der Folge als für eine freie Entfaltung der politischen Praxis in allen Einzelfragen höchst 
pünstig erwies. Ein konfessioneller Charakter wurde ebenso entschieden abgelehnt, wie eine kon- 
fessionelle Bezeichnung. Die Forderung der Freiheit und Selbständigkeit „der Kirche“ im 
Programm der preussischen Fraktion wurde im Programm der Reichsfraktion bereits ersetzt 
durch die Forderung des Schutzes der Rechte „der Religionsgesellschaften“. Die Zentrums- 
partei sollte sein und wurde auch eine allgemeine politische Staats- und Reichspartei, welche An- 
hängern aller religiösen Bekenntnisse offen stand, soweit sienurihrepolitischen Grundsätzeannahmen. 
Die Zentrumspartei war demnach weder als Oppositionspartei, noch etwa als Feindseligkeit 
gegen das neue deutsche Reich, noch gar als Gesensätzlichkeit zum Protestantismus gedacht. Sie war 
vielmehr gedacht als eine Partei positiver politischer Arbeit auf Grund eines neuen, klaren Pro-
	        
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