Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

Carl Bachem, Zentrumspartei. 9 
grammes, welches alle Seiten der Politik, Verfassungs-, Kirchen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik 
umfasste. Sie wandte sich an die Anhänger aller Konfessionen, Stämme und Berufsstände, um 
eine Partei der politischen und sozialen Versöhnung zu werden. 
Die Gründer der neuen Partei waren sämtlich Katholiken gewesen. Zunächst 
setzten jetzt eifrige Bemühungen ein, um auch protestantische Kreise heranzuziehen. 
August Reichensperger führte den konservativen Abg. von Gerlach in die Fraktion ein; Savigny 
verhandelte mit dem sächsischen Minister Freiherrn von Friesen, um die sächsischen Konservativen 
zum Anschluss zu gewinnen; Bischof von Ketteler veranlasste, als er 1872 sein Mandat niederlegte, 
in seinem Wahlkreise Tauberbischofsheim die Wahl des Rechtsanwalts Schultz aus Heidelberg zum 
Reichstag; Windthorst setzte durch, dass Herr von Gerlach im Januar 1873 von dem rheinischen 
Wahlkreis Sieg-Mühlheim-Wipperfürth ins Abgeordnetenhaus, 1877 vom Wahlkreis Osnabrück 
auch in den Reichstag gewählt wurde. Bei jeder Gelegenheit betonten die Führer des Zentrums, 
dass ihre Partei keine konfessionelle, sondern eine politische sei, zu welcher jedem Protestanten 
ebenso der Zutritt freistehe wie jedem Katholiken. Schultz-Heidelberg und Herr v. Gerlach traten 
der Fraktion als Mitglieder bei. Weiterhin gelang es aber nur dea persönlichen Beziehungen Windt- 
horsts, die christlich-konservativ gerichteten Abgeordneten aus Hannover, welche an der welfischen 
Tradition festhielten, zu bewegen, dem Zentrum als Hospitanten sich anzuschliessen. Die Zahl 
der letzteren nahm allmählich ab; 1907/12 hatte nur die Fraktion des Reichstages noch einen 
protestantischen Hospitanten aus Hannover. Doch trat nach der Reichtagswahl vom Januar 
1912 wieder ein protestantischer Abgeordneter (aus der bayrischen Rheinpfalz) der Zentrums- 
fraktion als Mitglied bei. Der Hauptgrund dieser Zurückhaltung protestantischer Elemente 
lag in einem taktischen Kunstgriff des politischen Kampfes der siebenziger Jahre: Die Liberalen 
empfanden richtig, dass die neue Partei der Kristallisationskern einer grossen antiliberalen 
Partei werden könnte. Fürst Bismarck argwöhnte, von liberaler Seite hierin irregeführt, ohne 
Grund, dass die neue Partei bestimmt wäre, ihm beim Ausbau des neuen deutschen Reiches Schwie- 
rigkeiten in den Weg zu legen. Von beiden Seiten wurde die neue Partei als „Katholikenpartei‘ 
und als „reichsfeindlich‘ ausgeschrieen, um ihre Verstärkung aus protestantischen Kreisen zu 
hintertreiben. Das Mittel hatte Erfolg; ob zum Nutzen des deutschen Reiches und Volkes, wird 
heute schon weiteren Kreisen fraglich sein, die sich früher in der Hitze des Kulturkampfes 
täuschen liessen. Auf der anderen Seite liessen die katholischen Polen sich nicht bewegen, zum 
Zentrum zu treten. Sie bildeten, wie früher schon im preussischen Abgeordnetenhause, auch im 
neuen Reichstag eine nationalistische Fraktion. Selbst die katholischen Elsässer und Lothringer 
hielten sich lange ferne. Erst das folgende Jahrhundert begann hierin eine Wandlung anzubahnen. 
Dagegen hatten die Bemühungen, Angehörige aller deutschen Stämme und aller Berufs- 
stände in der Fraktion zu vereinigen, allmählich vollen Erfolg. So wurde das Zentrum eine wahre 
deutsche Volkspartei, welche in voller Unabhängigkeit für die Interessen des Volkes eintritt, so 
wie sie diese versteht. Wie nach Lage der Dinge im Deutschen Reiche eine Parteiregierung un- 
möglich ist, sondern jede Regierung über den Parteien stehen muss, so sind auch ausgesprochene 
Regierungsparteien unnötig und vielleicht sogar vom Übel. Der Unabhängigkeit deı Regierung 
muss die Unabhängigkeit der Parteien entsprechen, und dieser Erkenntnis folgend, hat die Zentrums- 
partei stets sich als völlig unabhängige Volkspartei gefühlt und geführt. 
Doch wurde sie zunächst durch den sofort ausbrechenden Kulturkampf zu schärfster Oppo- 
sition sowobl im preussischen Abgeordnetenhaus wie im deutschen Reichstag gedrängt. Es gelang 
dem Zentrum in diesem Kampfe aicht ganz, die Rechtsstellung der katholischen Kirche zu retten; 
doch kam es schliesslich zu einem erträglichen modus vivendi, nachdem die Reichstagsauflösung von 
1887 nur vorübergehend zur Schwächung seiner parlamentarischen Stellung, gar nicht zur Schwä- 
chung seines Bestandes geführt hatte. Ursprünglich isoliert, gewann die Partei seit der neuen Wirt- 
schaftspolitik des Fürsten Bismarck (Zolltarif von 1879) Fühlung mit der rechten Seite beider Par- 
lamente und konnte beginnen, in positiv schaffendem Sinne für ihre Programmforderungen einzu- 
treten. In der Periode der Arbeiterversicherung (kaiserliche Botschaft vom 17. November 1880) 
wurde sie die Hauptstütze der Sozialpolitik im Reiche. Mit dem Regierungsantritt des Kaisers 
Wilhelm II. (Februareilasse von 1890) gelangte die von ihr stets verfolgte Arbeiterschutzpolitik 
zum Siege. Früher militärischen Neuforderungen gegenüber als Nachwirkung der liberalen
	        
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