Josef Grunzel, Die Industrie. 397
Die Zahl der in der Industrie beschäftigten Personen hat sich also in einem Vierteljahrhundert
fast verdoppelt. Dadurch ist die Landwirtschaft als Erwerbsquelle erheblich zurückgedrängt worden.
In Preussen gehörten im Jahre 1843 noch mehr als 60 % der erwerbstätigen Bevölkerung der Land-
wirtschaft an, im Jahr 1907 nur noch 28,6 %. Im Deutschen Reich ist der Anteil der Industrie von
der Berufszählung von 1882 bis zu jener von 1907 von 35,5 %, auf 42,8 % gestiegen, der der Land-
wirtschaft von 42,5 % auf 35,2 %.gefallen. Der Prozentsatz der Industrie wird heute nur noch von
Grossbritannien, der Schweiz und Belgien übertroffen, wo aber ganz besondere Verhältnisse die Aus-
dehnung der Landwirtschaft hemmen. Diese rasch fortschreitende Industrialisierung hat Bedenken
geweckt, die in der Kontroverse über „‚Agrarstaat‘‘ und ‚„‚Industriestaat‘ ihren lebhaften Ausdruck
gefunden haben. Man befürchtet vom Industriestaat eine wachsende Abhängigkeit vom Auslande,
eine Aushungerung im Kriegsfalle und eine Minderung der nationalen Wehrkraft. Die wirtschaftliche
Abhängigkeit wird aber ungefährlicher, weil sie in immer höherem Grade eine gegenseitige wird,
die Aushungerung im Kriegsfalle hat aber am wenigsten Deutschland zu fürchten, das über mehrere
Zufuhrwege verfügt und sich gleichzeitig auf eine starke landwirtschaftliche Produktion im In-
lande stützt, die Minderung der nationalen Wehrkraft wird aber auch nicht eintreten, weil man die
sanitären Gefahren der industriellen Beschäftigung zu bannen versteht und die Kriegstechnik über-
dies immer grössere Anforderungen an die Intelligenz als an die physische Kraft der Soldaten stellt.
Zwischen Landwirtschaft und Industrie besteht überhaupt nicht jener scharfe Gegensatz, der viel-
fach durch Schlagworte des Tages konstruiert wird. Mit dem wachsenden Wohlstand der Be-
völkerung vermehrt sich begreiflicherweise der Bedarf an Industrie-Erzeugnissen stärker als jener
in Nahrungsmitteln. Daher muss die Industrie ganz naturgemäss einen immer breiteren Raum im
Wirtschaftsleben eines Kulturlandes beanspruchen. Die Landwirtschaft aber sinkt deshalb nicht
in ihrer Bedeutung, denn bei ihr wird die Grösse des Bedarfes ersetzt durch die Dringlichkeit des Be-
darfes, weil das Nahrungsbedürfnis allen anderen vorangeht. Die Industrie braucht die Landwirt-
schaft als notwendigen Unterbau, fördert sie aber durch Vermehrung der Nachfrage und durch
Beistellung wichtiger Produktionsmittel (Maschinen, künstliche Düngemittel) und ermöglicht ihr
jene Industrialisierung, für welche besonders Dänemark ein charakteristisches Beispiel bietet. Die
Landwirtschaft wird selbst ein Industriezweig. An Gegensätzen wird es auch dann nicht fehlen,
aber sie werden nicht grösser sein als zwischen den einzelnen Zweigen der heutigen Industrie.
Die Ziffer für die erwerbstätigen Personen lässt den Aufschwung der industriellen Arbeit nur
zum Teil erkennen, weil die Menschenarbeit in steigendem Verhältnis von der Maschinenarbeit ab-
gelöst wird. Die Verwendung von Motoren in Industrie und Bergbau war folgende:
Betriebe mit Motoren Pferdestärke
(Haupt- und Nebenbetriebe)
1895 139.687 3,356.538
1907 233.360 8,008.405
Gleichzeitig ist die Leistungsfähigkeit der Motoren gestiegen, weil man sich von den unregel-
mässigen und unzuverlässigen natürlichen Betriebskräften Wind und Wasser unabhängig zu machen
wusste. Noch im Jahre 1882 war in Deutschland die Wasserkraft an erster Stelle, seither aber er-
folgte ein entscheidender Umschwung zugunsten des Dampfes und der Elektrizität. Es entfielen
von den Motorbetrieben auf
Windkraft Wasserkraft
Betriebe Betriebe Pferdestärke
1895 18.242 53.908 626.853
1907 17.724 49.090 862.467
Dampfkraft elektrische Kraft
Betriebe Pferdestärke Betriebe Kilowatt
1895 54.402 2,661.513 2.003
1905 69.6355 6.499.602 71316 1,360.508