Full text: Handbuch der Politik. Zweiter Band. (2)

62. Abschnitt. 
Handwerk und Kleingewerbe. 
Von 
Geh. Hofrat Dr. Julius Pierstorff, 
o. Professor der Staatswissenschaften an der Universität Jona, 
Literatur: 
Wernicke, J.: Kapitalismus und Mittelstandspolitik. Jena 1907. Derselbe: Der Mittelstand und 
seine wirtschaftliche Lage. Leipzig 1909. Pierstorff, Julius: Der moderne Mittelstand. Leipzig und 
Dresden 1911. Sering: Dio Verteilung des Grundbesitzes und die Abwanderung vom Lande. Berlin 1910. 
Der Mittelstand und seine wirtschaftlichen und sozialen Interessen sind in Deutschland 
und einigen anderen Ländern des europäischen Kontinents nach Ablauf der liberalen Aera mehr 
als früher in den Vordergrund gerückt worden. Die Verschwommenheit und Dehnbarkeit des 
Begriffs, welche dabei hervortraten, machen vor allem eine klare Begriffsbestimmung erforderlich, 
Zweifellos wird die Zugehörigkeit zum M. zunächst durch den Bezug eines Einkommens 
mittlerer Höhe bedingt unter Ausschluss der ganz grossen und ganz kleinen Einkommensklassen. 
Aber abgesehen von der Schwierigkeit einer festen Abgrenzung des mittleren Einkommens wird 
diese mechanische Bestimmung allein dem Standesbegriff nicht gerecht. Für diesen kommt ausser- 
dem die Eigenart der wirtschaftlichen und sozialen Stellung in Betracht. Meistens fasst man in 
dem Begriff Mittelstand alle diejenigen Elemente zusammen, welche, gestützt auf eigenes Vermögen 
mittleren oder kleineren Umfanges, einen gelernten Erwerbsberuf in äusserlich selbständiger 
Stellung und in der Regel unter persönlicher Arbeitsbetätigung ausüben. Danach gehören zum 
Mittelstande: Bauern, Handwerker und andere selbständige Kleingewerbetreibende, mittlere und 
kleine Kaufleute und Händler, Privatbankiers mit lokalem Geschäftsbetrieb, Gast- und Schank- 
wirte, auch wohl Kommissionäre und Agenten usw., Bisweilen wird ihm auch die Masse der Aerzte, 
Rechtsanwälte, Künstler usw. zugezählt. Nachdem in ncuester Zeit die wachsende Ausdehnung 
der Staats- und Kommunalverwaltung sowie der Staats- und Kommunalbetriebe die Zahl der öffent- 
lichen Beamten und die zunehmenden Konzentration des Industrie-, Handels- und Verkehrsbetriebes, 
die Zahl der Privatangestellten immer mehr hat anschwellen lassen, ist es Brauch geworden, die 
Masse der öffentlichen und privaten Beamten und Angestellten mit mittlerem Einkommen und in 
nicht leitenden Stellungen als neuen Mittelstand dem vorhin charakterisierten, an die Zustände 
früherer Jahrhunderte unmittelbar anknüpfenden Mittelstand, als dem älteren, gegenüber oder 
zur Seite zu stellen. Neuerdings endlich pflegt die sogenannte Mittelstandsbewegung den Begriff 
des Mittelstandes sogar auf den vorwiegend städtischen Kreis der Handwerker und Kleingewerbe- 
treibenden und den mit mittlerem und kleinem Kapital betriebenen Detailhandel zu beschränken, 
eine Begriffsbeschränkung, die wissenschaftlich nicht gerechtfertigt werden kann. Das Vorhanden- 
sein eines numerisch starken Mittelstandes und einer mannigfachen Abstufung innerhalb desselben 
pflegt man sozial besonders hoch zu bewerten, weil erein Hindernis darstellt für die Herausbildung 
eines schroffen und unvermittelten Gegensatzes zwischen Reichtum und Armut, zwischen einer 
Vermögensherrschaft weniger und einer proletarischen, weil ganz auf prekäres Lohneinkommen 
angewiesenen und darum wirtschaftlich und sozial abhängigen Volksmasse. Zugleich erblickt 
man in ihm ein Mittel, das bei Garantierung wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit dem Einzelnen 
ermöglicht, auf der sozialen Stufenleiter durch eigene Kraft emporzusteigen und dadurch den 
ganzen Gesellschaftskörper gesund zu erhalten. Nach dieser Anschauung erfüllt solche Aufgabe 
nur der sogenannte alte Mittelstand, weil nur in ihm Besitz und Arbeit innig verschmolzen und 
damit die notwendige Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Einzelnen gesichert erscheinen.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.