102 Adolf Weissler, Die Rechtsanwaltschaft.
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sein; die Frage ist aber, ob das Verhältnis zwischen beiden noch gesund und natürlich. Jedenfalls
sieht die Zukunft düster aus. Der Anwaltsberuf, weil der Korruption in viel höherem Grade als andere
Berufe ausgesetzt, bedarf mehr als diese der Unabhängigkeit nach unten, die eine gesicherte wirt-
schaftliche Stellung verleiht. Diese aber ist bei der andauernden Überfüllung nicht anders zu er-
reichen als durch Beschränkung der Zahl. Bis jetzt haben die Organe der Rechtsanwaltschaft
diese streng abgelehnt; 1909 hat eine Versammlung der deutschen Anwaltskammer-Vorstände,
1911 der Anwaltstag zu Würzburg mit grosser Mehrheit den numerus clausus in jeder Form für un-
annehmbar erklärt. Es scheint sich aber ein Umschwung vorzubereiten. Eine Umfrage, die ein
eigens zu diesem Zwecke gebildeter Verein rheinisch-westfälischer Rechtsanwälte 1913 veranstaltete,
hat ergeben, dass von 7527 abgegebenen Stimmen 6482 sich für Zulassungs-Beschränkungen aus-
gesprochen haben, ‚die weder die Unabhängigkeit noch die Freizügigkeit des Standes antasten und
keine Hintansetzung aus politischen oder konfessionellen Beweggründen zulassen.“
Die Rechtsanwaltschaft ist im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Ansehn und Einflusse
gelangt, die ihr früher versagt waren. An den deutschen Verfassungskämpfen war sie in auffallend
hohem Masse beteiligt: Stüve in Hannover, Oetker ın Kurhessen, Beseler in Schleswig-
Holstein, v. Itzsteın, v. Soıron, Hecker, Struve, Brentanomm Baden, Schott
undRömerin Württemberg, Braunund Schaffrathin Sachsen, GiskraundBerger
in Österreich waren Advokaten. In der Paulskirche sassen ihrer 90, fast ein Sechsteil der Ver-
sammlung, darunter glänzende Redner wie Ludwig Simon - Trier. Die Forderungen der Mündlich-
keit und Öffentlichkeit der Rechtspflege, des schwurgerichtlichen Verfahrens und der Anwalts-
kammer-Verfassung wurden schon ım Vormärz von den wenigen damals bestehenden Anwalt-
Vereinigungen erhoben, der Gedanke eines einheitlichen deutschen Privatrechts schon 1840 durch
den Advokaten Purgold- Darmstadt lebhaft aufgegriffen und 1843 auf die Tagesordnung eines
allgemeinen deutschen Anwaltstages, des ersten in seiner Art, gesetzt, der aber infolge Einspruchs
der Regierungen nıcht zustande kam. An den Arbeiten zum Straigesetzbuche zur Zivilprozess-
ordnung und zum Bürgerlichen Gesetzbuche ist dıe Rechtsanwaltschaft amtlich und weit umfang-
reicher unamtlich beteiligt gewesen; allein zum letzteren ist neben unzähligen kleineren Arbeiten
eın starker Band „Gutachten aus dem Anwaltstande‘ erschienen. Allgemein anerkannt ist der
ausserordentliche Umfang, in dem die Rechtsanwaltschaft an der wissenschaftlichen Durch-
dringung des neuen Rechts beteiligt ist; Hachenburg- Mannheim, der tieischürfende Gelehrte,
Staub - Berlin, der scharfisinnige Praktiker, Fuchs- Karlsruhe, der kühne und beredte Vor-
kämpfer der soziologischen Schule, sind nur einige aus der grossen Schar. Von den Praktikern
müssen Verteidiger ersten Ranges, wie Holthoffi, Munckel und Sello, hier erwähnt
werden; aus den übrigen auch nur die hervorragendsten zu nennen ist unmöglich. In
allen Selbstverwaltungs-Amtern ist die Rechtsanwaltschaft überaus zahlreich; die einfluss-
reichsten Politiker gehen fortwährend aus ihr hervor: Schulze-Delitzsch, Forcken-
beck, Mıquel, Windthorst, in neuester Zeit Bassermann, Krause, Trim-
born sınd nur einige wenige aus der Menge. Vielleicht kein Beruf ist in so hohem Umfange an der
Staats- und (semeindeverwaltung beteiligt wie die Rechtsanwaltschaft.
Aber auch an Angriffen hat es der Rechtsanwaltschaft nicht gefehlt; ja es kann beobachtet
werden, dass diese in der neuesten Zeit an Zahl und Heftigkeit zugenommen und bereits den Erfolg
gehabt haben, dass die Rechtsanwälte gesetzlich von dem Auftreten vor den Gewerbe- und Kauf-
manns-Gerichten ausgeschlossen sind. Allerdings liegen die Gründe hierfür zum grossen Teil in
Umständen, für welche die Rechtsanwaltschaft nicht verantwortlich ist: ın der unvermeidlichen
Verteuerung, dıe durch Zuziehung von Rechtskundigen, und der unvermeidlichen Verlangsamung,
dıe durch Verhandeln mit Bevollmächtigten eintritt. So richten sich auch die Klagen über Ver-
teuerung, welche ın der Deutschen Richterzeitung immer wieder erhoben werden, weniger gegen die
Rechtsanwaltschaft als gegen das Gesetz, welches den Verurteilten verpflichtet, seinem Gegner in
jedem Falle dıe Rechtsanwaltsgebühren zu erstatten. Aber es wird ihr auch Verwickelung und
Vervielfältigung der Prozesse, Verschleppung und Unwahrhaftigkeit, Unrechtsvertretung und
Klientenfang vorgeworfen. Es sind das Vorwürfe, die von jeher gegen den Anwaltstand erhoben
worden sınd und ın der Eigentümlichkeit dieses Berufs immer eine gewisse Grundlage finden werden.
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