Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

  
110 Julius Pierstorff, Die Frau in der Wirtschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. 
  
Frauen zum Studium unter voller Gleichberechtigung mit den Männern sowie auf Ermöglichung 
der notwendigen Vorbildung gerichtet waren. 
Den auf Erweiterung der weiblichen Erwerbstätigkeit gerichteten Bestrebungen gehen die- 
jenigen zur Seite, welche eine Hebung der weiblichen Leistungsfähigkeit für Haus und Familie 
überhaupt, abgesehen von allem Erwerbe, in allen Schichten der Bevölkerung bezwecken. Denn 
mehr und mehr hat die Einsicht sich durchgerungen, dass trotz aller Wandlungen in Wirtschaft und 
Gesellschaft allgemeinster und Hauptberuf der Frauen der Beruf der Frau und Mutter bleibt und es 
daher vor allem gilt das weibliche Geschlecht für die hieraus sich ergebenden Aufgaben tüchtig 
und leistungsfähig zu machen im Geiste der modernen Zeit. Darüber hinaus sind die Frauen 
für die Erfüllung allgemeinerer sozialer Aufgaben, welche sich aus den familiären entwickelt 
haben, zu interessieren und zu befähigen, vor allem für Kranken-, Armen- und Waisenpflege, auch 
allgemeine Kinderpflege und Kinderfürsorge ausserhalb des Kreises der Familie. 
Abgesehen davon, dass zahlreiche Berufe und Berufsfunktionen für den weiblichen Organis- 
mus ungeeignet oder minder geeignet sind, bewirkt der Umstand, dass für die Frau — im Gegensatz 
zum Manne — die Ehe selbst Beruf ist und die grosse Masse der Frauen auch tatsächlich früher oder 
später zur Ehe gelangen, eine völlig andere Stellung des weiblichen Geschlechts zum Erwerbsleben. 
Für die grosse Masse der unverheirateten Frauen, zum mindesten in den unteren Schichten, in 
weiterem Umfange aber auch in den höheren, bildet die Berufstätigkeit nur ein Durchgangsstadium, 
und wird solche von Ehefrauen nur ausgeübt, soweit und so lange die Erwerbsnotwendigkeit 
es gebietet. Daher überwiegt bei der Frauenarbeit der unteren Klassen die ungelernte, auch 
in der der höheren Schichten solche, die keine oder nur geringe spezielle berufliche Vorbildung er- 
fordert. Zumeist sind Frauen in solchen Berufszweigen und Berufstätigkeiten heschäftigt, welche 
den familiären Arbeitsgebieten ihres Geschlechts verwandt sind oder zu diesen in naher Beziehung 
stehen und mehr an die Geschicklichkeit als an die Körperkraft Anforderungen stelien. In letzterer 
Beziehung wirkte die Ausbreitung des Maschinenwesens und der Arbeitsteilung in der Industrie, 
sowie die mit der industriellen Konzentration und der modernen Verkehrsentwicklung Hand in 
Hand gehende Ausbreitung des Handels fördernd auf die Verwendung weiblicher Arbeitskräfte. 
Unter den freien Berufen ist es fast nur der Lehr- und Erziehungsberuf, der eine grössere Zahl von 
weiblichen Arbeitskräften anzuziehen vermag. Daneben kommt noch die ärztliche Praxis einiger- 
massen in Betracht, doch wird die Zahl der weiblichen Ärzte stets eine beschränkte bleiben, da diese 
fast nur für die Behandlung von Frauen und Kindern in Betracht kommen. Wachsende Bedeutung 
hingegen kommt der berufsmässigen Krankenpflege zu, welche ein spezifisch weibliches Arbeitsgebiet 
darstellt, auf dem die männliche Konkurrenz völlig bedeutungslos ist. 
In Deutschland betrug nach der Berufszählung des Jahres 1907 die Zahl der im Hauptberuf 
erwerbstätigen Frauen 
8,24 Mill. = 26,37 % aller weiblichen Personen. 
Dazu kommen weibliche Dienstboten 
1,25 Mill. = 4,05 % aller weiblichen Personen. 
Zusammen 9,49 Mill. = 30,37%  ;; ,, ,. 
Weitaus die grösste Zahl der erwerbstätigen Frauen entfallenaufdieLand-(und Forst.) 
wirtschaft mit 4,60 Millionen, von ihnen aber nicht weniger als 2,84 Mill. auf die mithelfenden 
Familienangehörigen. 
BergbauundlIndustrie zählten demgegenüber nur 2,10 Mill. weibliche Erwerbstätige 
Handel und Verkehr, der überhaupt weniger Hände beschäftigt, nur 0,93 Mill. 
Um die Bedeutung dieser Zahlen richtig zu würdigen, bedarf es einer Berücksichtigung 
ihres Wachstums. Während die Zahl der erwerbstätigen Männer seit 1895 sich prozentual nicht 
veränderte (61 %), stieg die Zahl der erwerbstätigen Frauen in derselben Periode von 5,26 auf 8,24 
Millionen oder von 19,97 auf 26,37 % und sank die Zahl der weiblichen Dienstboten von 1,31 auf 
1,25 Mill. oder von 4,99 auf 4,00 % bei einem gleichzeitigen Wachstum der Gesamtbevölkerung 
von 20 % in dieser Periode von 1895—1907. 
Enorm ist die Zunahme der weiblichen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, wo ihre 
Zahl sich um 67,04 % — von 2,75 auf 4,60 Mill. — erhöhte, während die Zahl der Männer absolut 
   
  
  
  
  
  
  
  
  
 
	        
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