Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

114 Julius Pierstorff, Die Frau in der Wirtschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. 
  
  
glieder auf 8 Wochen (statt auf 6), erstreckt worden, von denen mindestens 6 auf die Zeit nach 
der Niederkunft fallen müssen, so dass das Wochengeld ausser der Wöchnerinnenunterstützung 
eventuell eine mässige Schwangerenunterstützung umfasst. Den neugeschaffenen Landkranken- 
kassen, welche vorzugsweise Landarbeiter und Dienstboten umfassen, ist sogar gestattet worden, 
den Bezug des Wochengeldes zeitlich weiter zu beschränken, bis herunter auf 4 Wochen. 
Das Wochengeld wird nach wie vor in der Höhe des Krankengeldes, nicht des vollen Lohnes, 
gewährt. unter Ausschluss weiteren Krankengeldes. Mit Zustimmung der Wöchnerin kann an Stelle 
des Wochengeldes Kur und Verpflegung in einem Wöchnerinnenheim treten, auch Hilfe und War- 
tung durch Hauspflegerinnen, doch muss in letzterem Falle der Wöchnerin mindestens die Hälfte 
des Wochengeldes belassen werden. Ein Anspruch auf obligatorische Gewährung von Hebammen- 
diensten und ärztlicher Geburtshilfe ist den Wöchnerinnen nicht eingeräumt, doch können die ein- 
zelnen Kassen freiwillig durch :hre Satzung solche Leistungen, soweit sie bei der Niederkunft er- 
forderlich werden, den versicherungspflichtigen Ehefrauen oder selbst allen weiblichen Versiche- 
rungspflichtigen, somit auch den unehelich Gebärenden, zubilligen. 
Neben dem Wochengelde ist eine weitergehende Schwangerenunterstützung eingeräumt, doch 
auch sıe nur als fakultative, nicht als obligatorische Kassenleistung. Sie besteht in einem Schwan- 
gerengelde in Höhe des Krankengeldes bis zur Gesamtdauer von 6 Wochen, das, eventuell unter 
Einrechnung des vor der Niederkunft gezahlten Wochengeldes, denjenigen zusteht, die infolge :ler 
Schwangerschait arbeitsunfähig werden. Desgleichen können die Kassen durch Satzungsbestim- 
mung Schwangeren Hebammendienste und ärztliche Behandlung, die bei Schwangerschaiftsbe- 
schwerden erforderlich werden, zubilligen. Gewährung von Stillgeldern ist bis zum Ablauf der 
zwöltten Woche nach der Niederkunft zulässig, nur dürfen ‚sie den Betrag des halben Kranken- 
geldes nicht übersteigen. Anspruch auf Wochenhilfe und Stillgeld dürfen die Kassensatzungen 
auch den versicherungsfreien Ehefrauen der Versicherten einräumen, nicht aber im Falle der Nieder- 
kunft die erforderlichen Hebammendienste und etwaige Geburtshilfe. 
Da nach den bisherigen Erfahrungen die Krankenkassen von der Befugnis zur Ausdehnung 
der Mutterschaftsversicherung voraussichtlich nicht in wesentlichem Umfange Gebrauch machen 
werden und da überdies auch in Zukunft immer noch zahlreiche bedürftige Mütter der Kranken- 
versicherungspflicht entrückt bleiben, so eröffnet sich den privaten, auf Selbsthilfe beruhenden 
Mutterschaftskassen ein reiches Feld der Betätigung. Die erste Anstalt dieser Art bildet die mu- 
tualıte maternelle, die, auf Anregung Jules Simon’s von dem französischen Industriellen Felix 
Poussineau in Parıs gegründet, im Jahr 1909 nicht weniger als 50 000 Versicherte in etwa 150 
Tochtergesellschaften umfasste und der es gelang, die Kindersterblichkeit auf 3 Prozent herabzu- 
setzen. Nach diesem Vorbilde wurde die erste deutsche Mutterschaftskasse im Jahr 1909 mit Hilfe 
ölfentlicher und privater Unterstützungen in Karlsruhe errichtet. Gegen einen mässigen Monats- 
beitrag gibt sie den am Ort lebenden Frauen und Mädchen, soweit ihr eigenes oder Familien- 
einkommen 3000 M. nicht übersteigt, nach einjähriger Karenzzeit ein Anrecht auf Wöchnerinnen- 
unterstützung wie auf Stillprämien. Erst vereinzelt sind andere Städte dem Beispiele gefolgt. 
Die Karlsruher Kasse war eine Schöpfung der dortigen Propagandagesellschaft für Mutter- 
schaftsversicherung, deren Endzweck die Erringung einer alle Bedürftigen umfassenden staatlichen 
Schwangeren- und Wöchnerinnenunterstützung bildet. 
Die grosse Bedeutung, welche einer umfassenden Mutterschaftsversicherung wie eines 
verstärkten Mutter- und eines hiermit eng zusammenhängenden Säuglingsschutzes überhaupt 
nicht nur im Hinblick auf die unmittelbar Beteiligten, sondern auch für das Gemeinwohl zu- 
kommt, ist unverkennbar. Während in den Jahren 1907, bezw. 1906 bezw. 1905 die Säuglings- 
sterblichkeit in Italien 16,1 Proz., in Frankreich 14,3 Proz., in England 11,8 Proz., in Schottland 
11,5 Proz., in Dänemark 10,9 Proz., in Schweden 8,1 Proz. und in Norwegen sogar nur 6,9 Proz. 
betrug, erreichte sie 1907 in Deutschland die hohe Rate von 17,6 Proz. Die nur von Öst rreich mit 
23,1 Proz. und von Russland mit 27,2 Proz. übertroffen wird. Eine wesentliche Herabdrückung 
dieser Sterblichkeitsziffer, zugleich auch eine stärkere Verminderung der Frauenleiden, ist zum 
Teil durch die Möglichkeit bedingt, den Arbeiterfrauen grösseren Schutz und bessere Pflege während 
der Schwangerschaft zu verschaffen. Ein Arbeiten bis kurz vor der Niederkunft hat nach ärzt- 
    
  
  
  
    
  
  
  
  
  
  
 
	        
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