120 Georg Kerschensteiner, Die Volksschule.
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Sammlung landesherrlicher Verordnungen im Herzogtum Sachsen- Meiningen,
(Nr. 5), Volksschulgesetz vom 3. Januar 1908.
HeinrichvonTreitschke, „Der Entwurf des preussischen Volksschulgesetzes‘“, Stuttgart 1892,
Cotta.
Der Zerstörungsgeist der staatlichen Volksschule, Mainz, Franz Kirchheim 1897.
V. Rintelen, ,„Das Verhältnis der Volksschule Preussens zu Staat und Kirche“, Paderborn 1888.
H.Rosin, Geschichte des preussischen Unterrichtsgesetzes von L. Clausnitzer, Hamburg 1908, 4. Aufl.
Dr. Theob. Ziegler, „Die Simultanschule“ (Pädagogische Zeit- und Streitfragen 1. Heft), Berlin1905.
M. Neefe, Statistisches Jahrbuch der deutschen Städte, Breslau 1910. Kapitel XXX, Professor H.
Schöbel, „Unterrichtswesen”.
Die Rechtsverhältnisse wie die Organisation der heutigen Volksschule sind viel weniger das
Ergebnis planmässıger Konstruktion als das einer Jahrhundertlangen Entwicklung. Hatte ursprüng-
lich die Kirche ein Interesse, ihre Gläubigen in den Lehren ihrer Religion zu unterrichten, so entstanden
mit dem Aufblühen der Städte ım 12. und 13. Jahrhundert sowohl ın Deutschland als ın den Nieder-
landen neben den alten Kloster- und Domschulen städtische Lateinschulen. Bald entwickelten sich
dann auch ın allen Städten sogenannte deutsche Schulen für Lesen, Schreiben und Rechnen; auf
dem Lande dagegen stand es um den Elementarunterricht in der Muttersprache bis zur Reformation
wenig günstig, wenn auch die Existenz von Dorfschulen nicht bezweifelt werden kann. Die Dorf-
schulen waren jedenfalls meist Piarrschulen und suchten hauptsächlich Kleriker und Sänger für den
Kirchendienst auszubilden. Von einem allgemeinen Volksunterricht konnte aber selbst in der
zweiten Hälfte des Mittelalters weder in den deutschen Städten noch auf dem Lande gesprochen
werden. Erst mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts erkennen die deutschen Fürsten den Volks-
schulunterricht als eine der Verwaltungsaufgaben ihrer Staaten an. Die Unterweisung des gesamten
Volkes wırd nun eine neue Aufgabe des Staates, indem eine Anzahl von deutschen Staaten, wie
Hessen-Darmstadt, Sachsen-Gotha, Preussen unter Friedrich Wilhelm I. und insbesondere unter
Friedrich II., drei von einander untrennbare neue wesentliche Grundsätze für die Schulpolitik
aufstellen: den Schulzwang, die Gleichberechtigung der Kirchen in
den Schulen, die Übertragung der Schullast auf die weltlichen
Gemeinden.
Der Schulzwang vollzog sich begreiflicherweise unter wachsendem Widerspruch der
kirchlichen Gewalten. Selbstverständlich war, dass ein Staat, welcher Schulzwang, Parität und
Gemeindeschullast einführte, auch die Verpflichtung und das Recht übernommen hatte, sowohl die
Schulaufsicht selbst zu üben, als auch insbesondere für dıe Ausbildung von Lehrern aus dem Lalen-
stande zu sorgen, die befähigt waren, wenigstens in allen weltlichen Unterrichtsgegenständen einen
Unterricht zu erteilen, an dem die Kinder verschiedener Konfessionen teilnehmen
konnten. Der immer grössere Widerspruch der Kirche kann daher nicht beiremden. Auf römisch-
katholischer Seite ging man zuletzt so weit, das Recht der Hausväter gegen die Schulzwangtyranneı
des Staates ins Feld zu führen; in der belgischen wie französıschen Verfassung wurde ım Jahre 1831
sogar ein grundsätzliches Verbot des Schulzwanges ausgesprochen.
Ebenso fand dıe Parität der verschledenen Kirchen den heftigsten Widerstand. Denn
wo vorher auf dem Lande Schulen gewesen waren, war nicht bloss das Schuleinkommen meistens
ein Teil des Küstereinkommens, die Küsterwohnung meistens zugleich Schulhaus, sondern auch die
Kirche hatte im wesentlichen die Herrschaft über diese Schulen und duldete in ihren Schulen keinen
Andersgläubigen. Der Staat aber war nach und nach paritätisch geworden, und immer mehr wurde
in den Verfassungen die allen Bürgern gewährte Freiheit der Relisionsausübung zum Staatsgrund-
gesetz gemacht. In der vom Staate eingerichteten Schule konnten nicht die verschiedenen Kon-
fessionen regieren ; die Regierung der Schule musste in die Hand eines Einzigen übergehen, und dieser
Einzige konnte naturgemäss nur der Staat sein. Allerdings konnte zu der Zeit, da die Volksschule
entstanden, der Staat auch nicht daran denken, die Kirchen aus seinen neuen Zwangsschulen zu
verdrängen; nicht nur das alte Recht bestand, das die Kirche für sich in bezug auf den Unterricht
in den Lehren des Christentums beansprucht, sondern auch der Staat der Aufklärungszeit hatte,
so gerne er auch heute als ein atheistischer Staat dargestellt wırd, das grösste Interesse an der
religiösen Erziehung der Massen. So musste er dem Religionsunterricht der Kirchen den Besitz-