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Theobald Ziegler, Hochschulfragen im allgemeinen.
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vorzugehen sich veranlasst und innerlich verpflichtet fühlt, dass er dann aus dem Dienst dieses Staates
oderdieser Kirche ausscheide und nicht als ihr Angestellter und Mandatar, sondern als freier Schrift-
steller hinfort sage, was er in diesem Sinn sagen zu müssen für sein Recht und für seine Pflicht
hält. So sind diese Konflikte doch grundverschieden von denen zwischen Wissenschaft und katho-
lischer Kirche. Hier kommen sie von innen heraus, nicht von aussen herein, von einer fremden
Macht ultra montes; dort hilft Gewissen und guter Wille der Beteiligten, hier hilft auch der beste
Wille und der Appell ans Gewissen nichts; darum ist hier das Problem so prinzipiell und so ver-
zweifelt.
Die herkömmliche Weise des akademischen Unterrichts ıst die der Vorlesungen — früher
wirkliches Vorlesen eines Lehrbuchs oder eines selbstgefertigten Manuskripts, neuerdings immer
mehr, und von den Studenten auch so erwartet, in der Form des freien Vortrags. Man hat gegen die
Sitte der Vorlesungen allerlei eingewendet: es sei Zeitverschwendung, weil rascher und besser ge-
druckt gelesen werden könne, was hier unter Umgehung der Vorteile der Buchdruckerkunst münd-
lich vorgetragen werde; und seitens der Studenten sei das Nachschreiben eine Gedankenlosigkeit
und ein Mechanismus ohne vielen Gewinn und Wert. Beides ist falsch. Das erstere, weil die lebendige
Rede doch etwas anderes ist und ganz anders wirkt, als der tote Buchstabe des Drucks. Hinter ihr
steht eine Persönlichkeit, die sich für das Gesprochene unmittelbar einsetzt und daher ganz anders
zum Mitgehen oder zum Widersprechen anregt; und auch das Uniertige und Suchende solcher
mündlichen Vorträge, dıe ja nicht vor dem Spiegel einstudiert zu werden pflegen, lässt die Hörer
voll Interesse teilnehmen an der Gedankenarbeit selber. Für diese aber ıst die Kunst, das Wesent-
liche aus dem Vorgetragenen herauszufinden, ein treffliches Bildungsmittel, das durch die vielen
Beispiele der Gedankenlosigkeit beim Nachschreiben nicht entwertet wird. Aber Vorlesungen
sind nie die einzige Form gewesen. Im Mittelalter kamen die Disputationen hinzu, die die Schlag-
fertigkeit und Redegewandtheit, freilich auch die Rechthaberei und Streitlust mächtig förderten.
Sie sind heute ganz oder fast ganz veraltet und aufgegeben, vielleicht über Gebühr. Dann kamen
in der Humanistenzeit die Deklamationen auf, Redeübungen, die dem Bildungsideal jener Zeit, der
Gabe der lateinischen eloquentia, dienen sollten. Auch diese Übung ist heute verlassen, und sie
mit Recht; schon zur Zeit ihres Bestehens wurden die Reden meist statt von den Studenten selber
für sie von den Professoren angefertigt und verfehlten so ıhr Ziel. Dafür ıst heute bei den Geistes-
wissenschaften die Mitarbeitder StudentenamForschenselberin den Seminarien getreten, die Seminar-
arbeit ist die Vorstufe der Doktorarbeit als der ersten selbständigen wissenschaftlichen Leistung des
jungen Mannes am Ende seiner Studienzeit. Philologische Seminare hat es lange schon gegeben;
dass nun für alle Fächer solche Seminarien und Seminarübungen eingerichtet sind, das ist zuerst
an der neugegründeten Strassburger Universität Sitte geworden und hat sich dann rasch überall
eingebürgert. Auf naturwissenschaftlicher und medizinischer Seite aber drängte vollends alles auf
solche selbständige Forscherarbeit und -mitarbeit hin; ın Laboratorien und beim Experimentieren,
ın Kliniken und Polikliniken, in Krankenhäusern und ÖOperationssälen liegt heute der Hauptnach-
druck auf dem Selbersehen nicht nur, sondern auch auf der eigenen Mitbetätigung unserer angehen-
den Naturforscher und Arzte. Dabeı kann man etwa sagen: ın den ersten Semestern überwlege
das rezeptive Verhalten in den Vorlesungen, in den späteren Semestern dagegen trete die Selbst-
tätıgkeit Immer mehr ın den Vordergrund.
Dadurch ergeben sich nicht nur neue Probleme dessen, was man Hochschulpädagogık nennt,
ohne dass diese doch als besondere Disziplin aufgefasst werden dürfte; dafür ıst der Universitäts-
unterricht viel zu individuell: es kommen auch Probleme der äusseren Gestaltung des Lehrbetriebs.
Georg Kaufmann!) hat in der übermässigen Ausdehnung der Massenuniversitäten Berlin, München
und Leipzig eine Gefahr gefunden, die durch die Worte ‚Weltuniversität und ‚„Provinzialuniver-
sität‘ bezeichnet werde. In dem Sinn, wie er es meint — ‚‚den Freund der Universitäten beschleicht
die Sorge, dass daraus ein Werkzeug des alten Grundsatzes Divide et impera erwachse” —, kann
ich das nicht zugeben, wohl aber deswegen, weil bei diesen Studentenanhäufungen gerade die Mit-
arbeit und Selbsttätigkeit der jungen Leute wieder in Frage gestellt und ıllusorisch gemacht wırd. In
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1) Universität Breslau. Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens. I. Teil, S. 251.