140 Theobald Ziegler, Hochschulfragen im allgemeinen.
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ein Gewinn, dass an Stelle eines einzigen grossen und leicht einförmigen Bundes die bunte Mannig-
faltigkeit vieler Korporationen getreten und geblieben ist.
Auch für den Studenten ıst das A und das O die akademische Freiheit — in ihren drei Be-
deutungen: als Lehrfreiheit des Professors, damit der Student zu diesem in das richtige Vertrauens-
verhältnis komme; als Lernfreiheit für sıch selber, damit er in der Arbeit selbständig wähle und
lerne pflichtmässige Arbeit freiwillig tun; und als Lebensfreiheit, dass er in diesen Jahren studen-
tischer Ungebundenheit und Rücksichtslosigkeit sich vorbereite auf die freiwillige und doch nicht
sklavische Unterwerfung unter die Sitte, soweit sie vernünftig und soweit sie sittlich ist. Bei alle-
dem müssen freilich ‚„‚Jünglinge gewagt werden, um Männer zu werden.“ Aber auf alle Gefahr hin:
auf dieser Freiheit beruht der tief sıttliche Wert und der ganze Reiz unseres deutschen Studenten-
lebens.
Die Träger dieses Lebens nach aussen hin waren lange Zeit fast ausschliseslich die farben-
tragenden Verbindungen. Neuerdings tritt ihnen eine andere Form, die freie Studentenschaft,
gegenüber. Sie repräsentiert die gegenwartsgedanken: die Notwendigkeit des Erwerbs einer all-
gemeinen, auch künstlerischen Bildung, sozialen Geist und soziale Leistungen, Pflege des Sports,
das demokratische Element und das allgemeine Wahlrecht auch auf studentischem Boden. Damit
stehen sıe zu der Romantik der Farbentragenden von gestern als dıe Vertreter des Realismus von
heute in ausgesprochenem Gegensatz. Aufabsehbare Zeit hin aber werden sich diese beiden Elemente,
das romantische und das moderne, auf unseren deutschen Hochschulen nebeneinander behaupten
und sich hin und her zu vertragen haben. Schwierigkeit macht nur die Frage, wer zu der freien
Studentenschaft gehören soll. Alle, wie diese selber beansprucht und sıch als Vertretung aller
nıchtinkorporierten Studenten fühlt, oder nur diejenigen, welche ausdrücklich von ıhr vertreten
seın wollen? Eıinstweilen erkennen die akademischen Behörden nur das letztere an, und es wird
Sache der Freistudentenschaft sein, durch das, was sıe bietet und das, was sıe leıstet, soviel An-
ziehungs- und Werbekrait zu entfalten, dass die meisten Nichtinkorporierten sıch ıhr anschliessen
und sıe als ihre Vertreterin betrachten; sonst ist die Gefahr, dass sie eben wieder nur eine Korpo-
ration wird neben und unter den anderen. Einsiedler und einsame Menschen wird es freilich auch
unter den Studenten immer geben.
Die studentischen Korporationen sind nach den verschiedensten Gesichtspunkten gebildet
— zur Pilege des nationalen Gedankens oder des studentischen Geistes oder heiterer Gesellig-
keit; es sind Turnvereine und Gesangvereine; auch wissenschaftliche Fachvereine sind darunter.
Schon ın diesen letzteren zeigt sich eine gewisse Einseitigkeit, das sogenannte Fachsimpeln
wird hier fast zur Notwendigkeit und zur Pflicht. Ganz vom Übel aber sind die konfessionellen
Vereine, die als katholische Studentenverbindungen auf unseren Hochschulen immer zahlreicher
und ımmer zielbewusster werden. Von ihnen urteilt Kaufmann :?) sıe ‚‚entziehen einen erheblichen
Teil der Studierenden katholischer Konfession dem näheren Verkehr mit ihren evangelischen
Kommilitonen, was um so mehr zu bedauern ist, da durch die Ausbildung des theologischen
Konvikts bereits die katholischen Theologen dem freien Verkehr mit den übrigen Studenten ent-
zogen sind; dıese Entwicklung ist durch den Duellzwang der meisten Korporationen gefördert,
aber Im ganzen ist sie ein Zeichen 'der Abkehr unserer Tage von dem Geiste der Gemeinschaft der
Konfessionen. Sie sind aber, füge ich hinzu, auch eine nationale Gefahr, weil sie den für unser
konfessionell zerteiltes Vaterland so notwendigen modus vivendi der Konfessionen unter einander
erschweren und ihr Miteinanderleben und sich Zusammenfühlen schon in der Jugend und von Jugend
an hintertreiben. Man kann daher nur wünschen, dass sie wieder verschwinden; nur freilich ver-
bieten soll man sie nicht; das würde sie nur zu Märtyrern machen und eher stärken, als ıhnen das
Wasser abgraben. Und auch der Widerstand der antiklerikalen Studentenschaft selber hat nicht
zu dem gewünschten Ziele geführt: die katholischen Korporationen blühen nach wie vor weiter
und sind zahlreicher als je. Wohl aber mindert diese von Bischöfen, Parteimännern und theo-
logischen Fakultäten geförderte Studentenabsonderung in konfessionellem Sinn den nationalen
Wert, der den theologischen Fakultäten zugemessen wird, und untergräbt damit diesen auf die
Dauer doch selber den Boden ihrer Existenz im Rahmen unserer Universitäten.
. 4) Kaufmann a. a. OÖ. 8. 231.