144 Wilhelm Wundt, Die Bedeutung der akademischen Seminarien.
für die älteren Mitglieder. Dabei war teils das Vorbild der klinischen Institute bestimmend, bei
denen das praktische Bedürfnis, brauchbare Ärzte heranzubilden, einen ähnlichen Wandel schon
seit längerer Zeit hatte eintreten lassen; teils und hauptsächlich aber wirkte hier das unter dem
Einfluss der wirtschaftlichen Entwicklung immer dringender werdende Begehren nach wissenschaft-
lich geschulten Leitern technischer und industrieller Unternehmungen vor allem auf die Entwicklung
der chemischen und dann auch der physikalischen Laboratorien im gleichen Sinne zurück.
Dem gegenüber haben sıch die Seminaren der Geisteswissenschaften, von denen diese ganze
Bewegung ausgegangen war, lange Zeit nicht oder nur wenig über ihr primitives Anfangsstadium
erhoben. Ihnen standen alle ; jene Motive nicht zur Seite, denen besonders die chemischen Labo-
ratorien, aber dann nach ihrem Vorbilde auch die anderen naturwissenschaftlichen Institute ihre
von der öffentlichen Meinung unterstützte Förderung von Seiten der Regierungen verdankten.
Während ein einziges Laboratorium dieser Art gegenwärtig den dreifachen Aufwand erfordert,
der vor kaum einem Jahrhundert für dıe Unterhaltung einer ganzen Universität genügte, sahen sich
bis vor kurzem und sehen sich zum Teil noch heute die geisteswissenschaftlichen Seminarien auf die
Unterkunft in einem Auditorium der Universität und auf eine minimale Summe für die Anlegung
einer kleinen Bibliothek angewiesen. Da begann in neuerer Zeit von einer anderen Seite her ein
Motiv wirksam zu werden, welches die Leiter solcher Seminarien zu weiteren Forderungen antrieb.
Dieses Motiv bestand in der Verfertigung einer Dissertation, mit welcher der die Universität ver-
lassende Kandidat als einem Zeugnis seiner eigenen wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit seine
Studien abzuschliessen pflegt, um mit ıhr den Doktorgrad zu erwerben. Indem sich auch in den
Geisteswissenschaften das Seminar als die in manchen Fächern unentbehrliche Einrichtung für die
Abfassung einer solchen Arbeit erwies, wandelte es sıch so von selbst allmählich in ein Institut um,
welches Übungs- und Forschungszwecken zugleich dient. Der Erfüllung dieses doppelten Zweckes
stehen jedoch noch heute Hindernisse im Wege, die nur zum Teil, und auch das nur an einzelnen
Universitäten hinweggeräumt sınd. Erstens ist es selbstverständlich, dass ein Institut, das der
wissenschaftlichen Arbeit dient, der Räume bedarf, ın denen diese ungestört von den Hemmungen
einer studentischen Privatwohnung und besonders im Anfang unter dem beratenden Einfluss
akademischer Lehrer geleistet werden kann. Zweitens bedarf ein solches Institut notwendig einer
grösseren Handbibliothek, die zu jeder Zeit unbeeinträchtigt von der Konkurrenz um die Be-
nutzung der allgemeinen Universitätsbibliotheken zur Verfügung steht. An unseren grösseren
Universitäten und zum Teil auch an den kleineren haben sich nun, diesem fortan wachsenden Be-
dürfnisse nachgebend, allmählich Seminarien entwickelt, die sich mehr und mehr über fast alle
Gebiete der Geisteswissenschaften erstrecken. So schliessen sich an die Seminarien für klassische
Philologie archäologische Institute, ferner germanistische, romanistische, anglizistische an. Dazu
kommen, abgesehen von den der juristischen und theologischen Fakultät angehörenden, staats-
wissenschaftliche und nationalökonomische, historische Institute, die meist wieder in verschiedene
Abteilungen zerfallen, endlich philosophische und an einigen grösseren Universitäten indoger-
manistische, semitologische, assyriologische, schliesslich zum Teil in das naturwissenschaftliche
Gebiet hinüberreichend, psychologische Laboratorien. Hinter der Fülle der Anforderungen, die
diese zahlreichen Institute stellen,' bleiben aber dıe Mittel zu einer auch nur annähernden Be-
friedigung ihrer Bedürfnisse selbst an den meisten der grösseren Hochschulen immer noch weit
zurück. Nun lässt sich freilich die Frage auiwerfen, ob eine der Pflege der praktischen Arbeiten
im Gebiete der Naturwissenschaften auch nur annähernde Gleichstellung hier überhaupt zu er-
streben sei. Gewiss würde ja die Wissenschaft keine sonderliche Schädigung erfahren, wenn sich
die Anzahl der Dissertationen, die alljährlich unsere philosophischen Fakultäten produzieren,
statt fortwährend zu wachsen, erheblich vermindern sollte. Aber dem ist doch entgegen zu halten,
dass dieser Zudrang zur wissenschaftlichen Arbeit genau dem Zudrang zum akademischen Studium
parallel geht, und dass sich dieser mit der allgemeinen Entwicklung des öffentlichen Lebens in engem
Zusammenhange stehenden Bewegung unmöglich Halt gebieten lässt. Vielmehr macht sich auch
hier ein nationales Bedürfnis nach erweiterter und vertiefter Bildung geltend, dem sıch die Uni-
versitäten, wenn sie nicht ihren Beruf verfehlen sollen, unmöglich entziehen können. Dazu kommt
noch ein anderes Moment, das schliesslich als die treibende Macht, die hinter dieser Ausbreitung