Adolf Wach, Reform des Rechtsunterrichts. Vorbildung des Juristenstandes. 149
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Rumpelkammer. Und wie ist es jetzt? Ueberall Gesetzesrecht, womöglich Kodifikation
und das Streben, die Gesetze zu bewältigen. An Stelle der Pandekten-Dogmatik der enorme
Stoff des überaus schwierigen B. G. B. mit seinen Nebengesetzen. Es genüge, das
heutige Grundbuchrecht dem gemeinrechtlichen Hypothekenrecht, die heutige der gemein-
rechtlichen Immobiliarzwangsvollstreckung — von welcher letzterer in Vorlesungen überhaupt
kaum die Rede war — oder das gemeinrechtliche Straf- und Prozessrecht dem heutigen
gegenüber zu stellen, um den Wandel zu erkennen. Dazu Staatsrecht, Verwaltungsrecht,
volkswirtschaftliche Disziplinen u. a. m. Ueberall wird eine in allen Grundgedanken lücken-
lose, die Zusammenhänge, die Struktur der Rechtsinstitutionen klar legende Darstellung
erstrebt und überall eine „verständnisvolle Aneignung“ gefordert. Und wenn auch der nicht
geradezu törıchte Examinator nicht Paragraphen reiten, nicht Details fordern, sondern sich
auf die Elemente beschränken wird, — so stellt ja das gerade: das Prüfen auf die Grund-
begriffe, auf das Verständnis der Rechtsinstitution die schwersten Anforderungen.
Und der Studierende, der Rechtskandidat, dem das alles, was man ihm vorträgt, fremd
war? Dem ein den inneren Menschen nicht ergreifender, spröder Stoff in Abstraktionen
geboten wird? Man klagt über „Unfleiss“, m. a. W. darüber, dass es am Kollegienbesuch
mangelt. Aber so war’s von altersher und die Präsenz verbürgt nicht einmal das „Hören“,
und das „Hören“ ist ganz wertlos ohne Verstehen und Verarbeiten. Bildet für dieses ein
vielleicht schlecht nachgeschriebenes Heft die Grundlage, so ist’s schon um deswillen damit
nichts. Aber überhaupt: das Verarbeiten, das verständnisvolle in sich Aufnehmen lediglich
auf Grund der Vorlesung ist für viele kaum möglich. Wer klärt Missverständnisse ?
Wer löst Zweifel? Wer belebt die doch nur den Extrakt des Vortrags darstellende
Niederschrift, nachdem das Gehörte längst entschwunden ist? Und wer kann es festhalten,
wenn er mehrere Stunden täglich Vorlesungen verschiedenen, fremdartigen und schwierigen
Inhalts gefolgt ist? Wie soll der Kandidat scheiden zwischen dem \Wissensnotwendigen,
Wesentlichen und dem Wissenswerten ? Es bedarf keiner weiteren Ausführung, um begreiflich
zu finden, dass das Hören und die selbständige Arbeit vieler erlahmt und sie sich zum
Repetitor retten. Der drillt auf das Examen. Hier wird die Frage und Antwort nach
bestimmtem Rezept auf die Examinatoren eingepaukt. Hier entsteht ein ad hoc brauchbares
Wissen. Freilich vielfach nur Gedächtniskram, bald vergessen, wertlos für das spätere Leben.
Aber es erfüllt seinen unmittelbaren Zweck, — denn die Examinatoren müssen sich wohl
oder übel damit begnügen. Der Kandidat hat doch etwas gewusst.
In dieses trübe Bild fällt ein erquickendes Licht durch die Erfolge der praktischen
Uebungen. Ich spreche aus Erfahrung; denn ich habe jedes Semester mehr als vierzig
Jahre hindurch Praktika gehalten und verdanke Brieglebs Praktikum das erste Verständnis
für den Prozess. Ich arbeite seit dem 1. Oktober 1879 fortgesetzt als Richter am Leipziger
Landgericht und bin daher in der Lage, das Verhältnis solcher Uebungen zur Praxis ab-
zuschätzen. Sie sind keine Antizipation der Praxis. In ihnen arbeiten Dozent und
Student zusammen, findet freier Gedankenaustausch statt, lernt der Hörer zuerst methodisch
die Anwendung des Rechts auf den gegebenen Fall, belebt sich ihm der Begriff, gelangt
er durch Arbeit zur selbständigen Aneignung dessen, dem er bisher nur rezeptiv gegenüber
stand. Der Erfolg wird sich steigern mit der eigenen juristischen und Lehr-Begabung des
Dozenten; er wird gefährdet durch ungeschickte Auswahl der Fälle, Tüftelei, dogmatische
Feinschmeckerei, wo doch das tägliche Brot not tut. Aber so wertvoll, ja unschätzbar die
Praktika sind, sie verbürgen die notwendige, universelle Durchbildung nicht.
Das Resultat ist: der Uhiversitätsunterricht ermangelt der edukatorischen Kraft; er
bietet, wenn man Vorlesungs- und Lernstoff identifiziert, zu viel — und er bietet zu wenig
an Hilfskräften zur wirklich wissenschaftlichen, verständnisvollen Aneignung. Der Examens-
druck, der ja besteht, vermag daran nichts zu ändern. Selbstverständlich auch nicht die
Einschaltung eines Examens (Zwischenexamens) in die Studienzeit, das viele empfehlen, das
Bayern und Oesterreich haben und auf das in anderem Gedankengang zurückzukommen Ist.
Ob eine Verbindung der Studien mit der Praxis in irgend einer Form helfen kann, durch