Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

   
176 
Eugen von Jagemann, Sicherheitspolizei. 
ER > p 
Reichsinländer, abgesehen von gewisser nur innerdeutscher Abschiebung wiederholt bestrafter 
Bettler und Landstreicher oder nahrungslos neu Anzıiehender.!) Ein polizeiliches Kreuz sind die 
Zigeuner, der Race nach fremd, aber dennoch manchmal rechtlich Deutsche; man pflegt ihnen 
das Ziehen in Horden, das Lagern im Freien ohne Wagen oder auf nicht angewiesenem Platz zu 
verbieten, ihre Ausweise für die Aufenthaltsdauer zu hinterlegen, auch in bezug auf Wehr- und 
Schulpflicht genaue Kontrolle zu üben und unter Umständen die Kinder durch Zwangserziehung 
dem Nomadenleben zu entreissen. 
  
  
2. Verkommene Personen (Prostituierte, Zuhälter, Trunksüchtige, Wilderer, 
Rowdis etc.), in deren Kreis die nach R.St.G.B. $ 361 Z1.3—8 Bestraften eine odiös privilegierte 
rechtliche Sonderstellung haben, und Delinquenten von schwereren Fällen, 
insbesondere zur Polizeiaufsicht Verurteilte (s. oben Il] Abs. 2), bilden zusammen mit psychisch 
Verdächtigen von motorischer Anlage einen Kreis, dem für zu erwartende oder aufzu- 
klärende Rechtsbrüche sich selbstverständlich das polizeiliche Auge zuwendet. Besondere Rechts- 
befugnisse bestehen aber meist nur ın wenigen, geregelten Hinsichten; bezüglich der Polizei- 
aufsicht ist dabei zu bemerken: ıhre Ausübung bleıbt trotz des urteilsmässigen Ausspruchs 
fakultativ und sollte, um das Fortkommen nicht zu schädigen, so schonend wie möglich geschehen, 
besser manchmal durch Fürsorger aus den Schutzvereinen, als durch Polizisten, deren Erscheinen 
einen Stellenverlust des zu Rehabilitierenden bedeuten kann. Ihre Wirkungen für den Inländer 
(Möglichkeit des Aufenthaltsverbots an einzelnen Orten, der Haussuchung bei Nacht’) bedeuten 
an sich weniger, als jenes Erscheinen oder die Arbeitsbehinderung durch "Meldungsauflagen. 
  
  
3. Das Feld der politischen Polizei ıst bei der grundsätzlichen Zulässigkeit jeder 
Opposition an sich im modernen Staat beschränkt. Sıe hat strafbaren Handlungen vorzubeugen, 
aber nicht nur solchen, welche nach schulmässiger Einteilung Delikte gegen den Staat oder vager 
politische heissen, und nicht bloss der Verübung, sondern auch der Vorbereitung. Selbstverständlich 
wendet sie sich hierzu jeweils demjenigen Personenkreise zu, welcher die bestehende 
staatsgesetzliche Ordnung in gefährlicher Weise bekämpft. Wenn auch ‚Gesin- 
nungsschnüffelei‘“ durchweg auszuschliessen ist, so muss sie über Leiter und Massenbedeutung 
solcher Kampfgruppen unterrichtet sein, was nur beı öffentlichen Vorgängen leicht ist; die Befugnis, 
solchen Versammlungen anzuwohnen, auch aus zureichendem Grund sie aufzulösen, bietet zu 
Information und Vorkehr eine wichtige Handhabe.!) Auch pflegt die Polizei aufreizende Demon- 
strationen zu verbieten. Die Nichtduldung verbotener, auch nur verbaler Ausschreitung, die 
Verhütung gar der Gewalttätigkeit, ist ihr Zweck bei solchen Massnahmen. 
Eine besondere Stellung in diesem Kreise nehmen die Anarchisten ein, welche sich 
zwar in theoretische Richtungen und in die Propaganda der Tat teilen, aber programmatisch alle 
die Vernichtung des Staats überhaupt, nicht nur einer bestimmten — etwa monarchischen oder 
gesellschaftlichen — Ordnung beziehen.!?) Ihre besondere Gefährlichkeit wird illustriert durch 
  
  
  
  
un, 
16) Näheres bei Meyer-Dochow, Deutsches Verwaltungsrecht $ 35. Nur der erste Fall gehört dem staatlichen 
Sicherheitspolizeirecht, der zweite (Gemeindebefugnis), im Freizügigkeitsgesetz geordnet, virtuell dem Armenreckt 
an. Der Staat, in welchem Angehörigkeit, Heimatsrecht oder Unterstützungswohnsitz besteht, kann nicht ab- 
schieben. Einige Staaten veröffentlichen Ausweisungsstatistiken. In Baden z. B. (statist. Jahrb. 37 S. 580) wurden 
im Jahrzehnt 1898/1907 durchschnittlich jährlich ausgewiesen aus dem Staatsgebiet: nach $3 des Freizügigkeits- 
gesetzes Deutsche 1040 und nach dem badischen Aufenthaltsgesetz Ausländer 437, aus dem Reichsgebiet nach 
R.St.G.B. $38 bezw. 362 Ausländer 2+ 15. Über solche Ausweisungen aus letzterem gibt auch die Reichskriminal- 
statistik Auskunft. 
17) Vgl. übrigens weiter Gew.O. 8$ 43, 57, 62, St.P.O. 88 103—$6. 113. 
18) Vgl. Reichsvereinsgesetz $$ 13, 14 und wegen der Vereine $ 2 (Auflösung, wenn der Zweck den Straf- 
gesetzen zuwiderläuft). 
19) Das Mitglied Friedeberg definierte 1906 das Programm dahin: „Gesetzlosigkeit, Religionslosigkeit, 
Vaterlandslosigkeit, Antimilitarismus, direkte Aktion, anarchosozialistischer Generalstreik, Zertrümmerung der 
kapitalistischen Ordnung und Beseitigung des Klassenstaats.““ Welcher Staat könnte aber gesetzlos sein ? 
  
  
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.