198 Franz von Liszt, Strafrechtsreform.
m. ST CHE EEE
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EREERE
Um alle Freunde der neuen Richtung zu sammeln, wurde von Prins in Brüssel, van Hamel
in Amsterdam und mir die Union internationale de droit penal (I. K. V.) gegründet, die am
l. Januar 1889 mit 99 Mitgliedern ihre öffentliche Tätigkeit begann. Die Grundgedanken, die uns
zusammengeführt hatten, sind von mir ın einer Reihe von Abhandlungen, deren erste im neunten
Band unserer Zeitschrift (1889) erschien, klargelegt und ın ıhren Folgen entwickelt worden.
Von den Landesgsruppen der I. K. V. entfaltetete besonders die deutsche eine sehr lebhafte
Tätigkeit. Im März 1890 fand die erste deutsche Landesversammlung in Halle (Saale) statt. Die
Verhandlungen führten zu einem glänzenden Sieg unserer populärsten Forderung, der „bedingten
Verurteilung“. Aber schon in den nächsten Wochen und Monaten sollte es sich zeigen, dass mit
diesem Sieg der Feldzug noch lange nicht entschieden war. Die Gegner der bedingten Verurteilung,
Wach und Binding an der Spitze, meldeten sıch, einer nach dem anderen, zum Wort. Darunter auch
das preussische Justizministerium mit einer Veröffentlichung im nichtamtlichen Teil des Justiz-
Ministerialblattes vom 13. Juni 1890, dıe zu den interessantesten Urkunden jener, heute soweit
hinter uns zurückliegenden Tage gehört.
Es ist hier nicht der Ort, die Einzelheiten dieses an Wechselfällen reichen Kampfes zu schil-
dern. Erst mit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte die Reformbewegung auf der
ganzen Linie sich durchgesetzt. Um diese Behauptung zu rechtfertigen, ist es notwendig, den
wichtigsten Punkten unseres legislativen Programms eine kurze Betrachtung zu widmen.
IH. Die Zielpunkte der Bewegung.
1. Die grundlegende Veränderung ın der Auffassung des Strafzweckes, wie sie in den Ver-
handlungen der I. K. V. und der an diese sıch anschliessenden Literatur der neunziger Jahre des
neunzehnten Jahrhunderts zum Ausdruck kam, trat in der immer entschiedener sich geltend-
machenden Forderung nach Einführung der sogenannten bedingten Verurteilung wohl
am volkstümlichsten hervor. In all seinen verschiedenen Ausgestaltungen beruht das Institut der
bedingten Verurteilung oder des bedingten Straferlasses auf dem Gedanken, dass die Vollstreckung,
vielleicht auch schon die Verhängung der Strafe von dem weiteren Verhalten des strafbar gewordenen
Täters abhängig gemacht, und dieser durch die Aussicht auf endgiltigen Erlass der Strafe zu recht-
vemässer Lebensführung bestimmt werden soll. In den Gebieten des engltsch-amerikanischen Rechts
hat dieser Grundgedanke zur Ausbildung des conditional release und des Probationssystems ge-
führt (besonders wichtig die englischen Gesetze von 1887 und 1907): Der Schuldige wırd, unter Aus-
setzung der Verurteilung oder der Vollstreckung, unter dıe Aufsicht einer vom Richter bezeichneten
Person, des ‚‚probation officer‘‘, gestellt; durch gute Führung wırd die weitere Verfolgung aus-
geschlossen, bei schlechter Führung kommt es zur Strafvollstreckung. Auf dem europäischen
Kontinent gingen Belgien durch ein Gesetz von 1888 und Frankreich durch dıe loı Berenger von 1891
in der Einführung der condamnation conditionnelle voran; Stellung unter Aufsicht (probatıon) findet
nach diesen Gesetzen nicht statt. Heute ist der bedingte Straferlass in nahezu sämtlichen Kultur-
staaten, meist nach dem belgisch-französischem Vorbild, geltendes Recht. In den deutschen Einzel-
staaten entschied man sich seit 1895 dafür, statt der bedingten Verurteilung die ‚‚bedingte Be-
enadigung“ auf dem Verordnungswege einzuführen, so dass dıe Entscheidung über den endgiltigen
Erlass oder die Vollstreckung der Strafe scheinbar dem Träger des Begnadigungsrechts, ın Wirklich-
keit der Staatsanwaltschaft, vorbehalten bleibt. Die für die einheitliche Durchführung der be-
dingten Begnadigung massgebenden Grundsätze sind im Bundesrat vereinbart worden und am 1. Ja-
nuar 1903 ins Leben getreten. Dagegen hat der deutsche Vorentwurf in den $$ 38 bis 41 die ‚‚be-
dingte Strafaussetzung‘, den Forderungen der I. K. V. entsprechend, in die Hand des Gerichtes
gelegt und den automatischen Eintritt des endgiltigen Straferlasses vorgesehen.
2. Auf keinem anderen Gebiet hatte sich die Verkehrtheit der ‚„Vergeltungsstrafe” so unver-
kennbar allen unbefangenen Beobachtern aufgedrängt, wieaufdemdesJugendstrafrechts.
Daher gelang es gerade auf diesem Gebiet sehr bald, für bestimmte legislative Vorschläge eine über-
wiegende Mehrheit zu finden. Die wichtigsten Forderungen gingen dahin, die Altersgrenze der Straf-
unmündigkeit von dem vollendeten zwölften auf das vollendete vierzehnte Lebensjahr hinaufzu-
sctzen, für die Altersklasse vom vierzehnten bis achtzehnten Lebensjahr dem Richter die freie Wahl