Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

  
Franz von Liszt, Strafrechtsreform. 
  
199 
  
  
zwischen Strafe und Erziehungsmassregeln zu sichern, dıe Fürsorgeerziehung auszugestalten, die 
Aburteilung der Jugendlichen besonderen Gerichten (Jugendgerichten) zu übertragen, und das Ver- 
fahren gegen Jugendliche von dem gegen Erwachsene durch besondere Vorschriften (Ausschluss der 
Öffentlichkeit usw.) zu unterscheiden. Während in den Vereinigten Staaten die Jugendgerichte rasch 
weite Verbreitung fanden, ging England an eine zusammenfassende Jugendgesetzgebung, die ihren 
vorläufigen Abschluss in der Children act von 1908 fand. Aus den übrigen Ländern seien hervor- 
gehoben: Das niederländische Gesetz von 1896, der österreichische Gesetzentwurf von 1907 und die 
ungarische Strafgesetznovelle von 1908. Der deutsche Entwurf einer Strafprozessordnung von 
1908/9, der im Oktober 1911 scheiterte, hatte ein besonderes Strafverfahren gegen Jugendliche vor- 
gesehen und dabei den modernen Forderungen ım weitesten Umfang Rechnung getragen. Das 
gleiche gilt von dem gegenwärtig dem Reichstag vorliegenden Entwurf eines Gesetzes über das 
Verfahren gegen Jugendliche. Auch der Vorentwurf eines Reichsstrafgesetzbuches bringt die 
Erhöhung der unteren Altersgrenze auf vierzehn Jahre und die Berechtigung des Richters, statt 
oder neben der Strafe auf Erziehungsmassregeln zu erkennen. Auch hier darf also, trotz des ver- 
einzelt noch auftauchenden Widerstandes (v. Birkmeyer), der Sieg der Reformbewegung als 
gesichert betrachtet werden. 
3. Aber nicht nur darum handelt es sich im Sınne der modernen Auffassung der. Strafe, den 
Verbrecher zu retten, so lange seine Rettung noch möglich ist; nicht nur darum, ihn an die Be- 
dingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens anzupassen, so lange die Anpassungsfähigkeit 
noch vorhanden ist: sondern auch darum, die Gesellschaft gegen unverbesserliche und 
semeingefiährlicheVerbrecher zusichern, und zwar durch die dauernde Ausscheidung 
der nicht mehr anpassungsfähigen Übeltäter aus der Gesellschaft. Die Durchführung dieses Ge- 
dankens verlangt eine tiefgreifende Umgestaltung des geltenden Rechts, vornehmlich nach drei 
Richtungen hin. 
Zunächst drängt sich die Notwendigkeit auf, de wegen wiederholten und 
schweren Rückfalls gemeingefährlichen Personen auf ebensolange aus der Gesellschaft 
zu entfernen, als der Zustand der Gemeingefährlichkeit nicht beseitigt ist; also, wenn nötig, auf 
Lebenszeit. Hier hat auf dem europäischen Kontinent zuerst Frankreich durch das Gesetz von 1885 
über die Relegation neue Bahnen eingeschlagen. Die wiederholt Rückfälligen werden nach verbüsster 
Strafe nach den französischen Kolonien Guyana und Neukaledonien verschickt. Die Ergebnisse der 
Relegation werden allerdings von der Mehrzahl der französischen Schriftsteller als wenig befrie- 
digend bezeichnet. Für dıe Länder des englisch-amerikanischen Rechts wurde die Gesetzgebung 
Australiens gegen habıtual crımınals massgebend. Das gilt nicht nur für verschiedene Gebiete der Ver- 
einigten Staaten Amerikas, sondern ganz besonders von der englischen Prevention of crime act 1908, 
nach der die Gewohnheitsverbrecher nach verbüsster Strafe auf unbestimmte Zeit (during Hıs 
majestys pleasure) in ‚„Präventivhaft” genommen werden. 
Das Reichsstraigesetzbuch kennt eine Strafschärfung gegen Rückfällige nur bei einigen 
Vermögensdelikten (Diebstahl, Raub, Hehlerei, Betrug); dagegen nicht bei Roheitsdelikten, wıe 
Messerstecherei, oder beı Sıttlichkeitsvergehen. Dem allgemeinen Verlangen nach einer zielbewussten 
und entschiedenen Bekämpfung des gewerbs- und gewohnheitsmässigen Verbrechertums stellten 
dıe Anhänger der Vergeltungsstrafe zunächst theoretische Bedenken entgegen. Nach ihrer Ansicht 
muss die Strafe nach Art und Mass der Schwere der begangenen Tat entsprechen; die Berücksich- 
tigung der Gemeingefährlichkeit des Täters würde die Forderungen der Gerechtigkeit verletzen, 
eine Anhaltung auf unbestimmte Zeit dem innersten Wesen der Strafe widersprechen. Die allmäh- 
liche Klärung der Meinungen hat aber dazu geführt, dass auch von dieser Seite einer ın der Dauer 
unbestimmten Anhaltung dieser ‘Personen nach Verbüssung der Strafe zugestimmt wurde; nur 
soll es sıch dabei nıcht mehr um Strafe, sondern um eine „sichernde Massnahme‘ handeln. So ıst 
der Kampf um die Grundfragen des Strafrechts zu einem Streit um die Terminologie geworden. 
Der deutsche Vorentwurf hatte eine vermittelnde Stellung eingenommen und gegen diese Gruppe 
der Verbrecher eine langdauernde aber zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe vorgeschlagen. Dieser 
Vorschlag hat weder die Vertreter der alten, noch die der neuen Richtung befriedigt; dıe ersteren 
nicht, weil sie darin eine Entstellung des Strafbegriffs erblickten, die letzteren nicht, weil durch die 
  
  
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.