Franz von Liszt, Strafrechtsreform.
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zul
mehr oder weniger umfangreiche Gesetze diese oder jene Forderung der Reformbewegung durchzu-
führen, während man im übrigen an dem festen Gefüge der Strafgesetzbücher zu rütteln den Mut
oder die Kraft nicht fand. So die romanischen Länder wie das grosse Gebiet des eng-
lisch-amerikanischen Rechts. Es ist begreiflich, dass dıese Teilreformen, gerade weil sie vielfach
tief in die Grundlagen der Strafgesetzgebung eingreifen, nicht überall die erhofften Wirkungen
zeigen konnten. Das gilt besonders von der bedingten Verurteilung in Belgien und Frankreich, die
das neue Reis auf den altersschwach gewordenen Baum des code penal aufzupfropfen versucht
hatten. Am besten eignete sich für eine gesonderte Behandlung noch das Gebiet des Jugendstraf-
rechts, namentlich dort, wo man es, wie ın England, mit dem Jugendschutzrecht zu einer organischen
Einheit zusammenzufassen bemüht war.
In anderen Staaten ging man mitkräftiger Entschlossenheit an den Neubau des ganzen Systems.
Am schnellsten haben diese Bemühungen in Norwegen zum Ziele geführt. Das neue Strafgesetzbuch
von 1902 ist das Werk zweier, mit der deutschen Wissenschaft ın engster Fühlung stehender Männer:
Des Oberstaatsanwalts Getz (T 1901) und des damalıgen Professors an der Universität Christiania
Franzis Hagerup. Hier sind zum ersten Mal dıe Grundgedanken der Reformbewegung zur klaren
und folgerichtigen Durchführung gelangt.
In der schweizerischen Eidgenossenschaft reichen die Vorarbeiten zu einem einheitlichen
Strafgesetzbuch, das den modernen Forderungen ım vollsten Umfang Rechnung tragen
sollte, bis in das Jahr 1890 zurück. Sıe lagen in der Hand des jetzigen Wiener Professors
Karl Stooss. Die Aufstellung, Beratung und Durchführung des Zivilgesetzbuches, das lange Jahre
hindurch das öffentliche Interesse fast ausschliesslich für sich in Anspruch nahm, hat den endgül-
tigen Abschluss der Neugestaltung des Strafigesetzbuches bis zum heutigen Tage verzögert. Mit
dem Entwurf von 1908 wurde aber auch das Zustandekommen des schweizerischen Strafgesetz-
buches in greifbare Nähe gerückt; gegenwärtig arbeitet eine Kommission an der Aufstellung des
Regierungsentwurfs. Auch Österreich, das von 1874 bis 1891 eine ganze Reihe von Ent-
würfen ausgearbeitet hatte, dıe alle auf dem Boden des längst veralteten deutschen Strafgesetz-
buches standen, hat seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in neue Bahnen eingelenkt; der
Entwurf von 1909, im wesentlichen das Werk des Prager Professors Graf Gleispach, hat, wenn auch
mit einer gewissen Zurückhaltung, den krıminalpolitischen Reformgedanken in weitem Umfang
Rechnung getragen. Der Regierungsentwurf von 1912, der gegenüber dem Entwurf von 1909
nur wenige Änderung bringt, ist bereits den gesetzgebenden Körperschaften vorgelegt.
Ganz eigenartig vollzog sich die legislative Entwicklung im Deutschen Reich. Eine in der
Deutschen Juristenzeitung vom 1. Juli 1902 veröffentlichte Erklärung von Kahl und mir stellte fest,
dass führende Vertreter der beiden Richtungen innerhalb der Strafrechtswissenschaft bereit seien,
unter Zurückstellung des Schulenstreites gemeinsam an der grossen Aufgabe der Schaffung eines
neuen Reichsstrafgesetzbuches mitzuarbeiten. Nunmehr trat auch der Staatssekretär des Reichs-
justizamtes, Dr. Nieberding, dem Gedanken näher. Auf seine Anregung begann im November 1902
ein freies wissenschaftliches Komitee, aus Vertretern der verschiedenen Richtungen gebildet, seine
redaktionelle Tätigkeit, um als Grundlage für die Aufstellung eines deutschen Strafgesetzent-
wurfes eine ‚Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts“ herauszugeben.
Im Jahre 1909 lag das Werk in sechzehn stattlichen Bänden vor; ein Werk, wie es kein anderes Volk
auf ırgend einem Gebiete der Gesetzgebung aufzuweisen vermag.
Inzwischen war bereits seit dem Maı 1906 eine aus fünf praktischen Juristen zusammenge-
setzte Kommission an der Arbeit, einen Vorentwurf aufzustellen. Im Herbst 1909 hatte sie ıhre Arbeit
vollendet, die nunmehr der Öffentlichkeit übergeben werden konnte. Auch der deutsche Vorentwurf
hat den Forderungen der Reformbewegung, wie oben bereits gezeigt worden ist, in allen wesentlichen
Punkten Rechnung getragen; er hält in dieser Beziehung etwa die Mitte zwischen dem schweize-
rischen und dem österreichischen Entwurf. Schon heute kann es, trotz der Bemühungen einzelner
Anhänger der Vergeltungstheorie, als sicher angesehen werden, dass gerade diese von dem Vorent-
wurf vorgeschlagenen Neuerungen allem Ansturm der Kritik standhalten werden.
Vom Herbst 1910 bis zum Herbst 1913 war eine neue grosse Kommission im Reichsjustizamt
an der Arbeit, auf Grund des Vorentwurfs und der dazu erschienenen Kritiken den amtlichen