Franz von Liszt, Strafrechtsreform.
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Entwurf des Reichsjustizamts festzustellen; er dürfte im Sommer 1914 veröffentlicht werden.
Um diese Arbeit zu fördern, haben die Professoren Goldschmidt, Kahl, v. Lilienthal und v. Liszt ım
Laufe des Jahres 1911 einen ‚Gegenentwurf‘ veröffentlicht, der sich im allgemeinen an den Vor-
entwurf anschliesst, diesen aber nach verschiedenen Richtungen hin ergänzt und verbessert.
Somit stehen die Schweiz, Österreich und das Deutsche Reich vor einer tiefgreifenden Umge-
staltung ihrer Strafgesetzgebung. Und trotz aller Abweichungen im einzelnen tragen die drei Vor-
entwürfe dieselben Grundzüge. Indem sie die Erfüllung der kriminalpolitischen Hauptforderungen
bringen, stehen sie an dem Beginn einer neuen Epoche der Strafgesetzgebung, wıe der code penal
von 1810 und das bayerische Strafgesetzbuch von 1813.
Y. Strafvollzug und Gefängniswesen.
Eine wirkliche Reform der Strafigesetzgebung schliesst die gesetzliche Regelung des
Strafvollzuges, in erster Linie des Vollzugs der Freiheitsstrafe, aber auch der ‚sichernden
Massnahmen‘, notwendig in sıch. Wıe auch der Gesetzgeber die Freiheitsstrafen gliedern
und von einander scheiden mag: Seine Bestimmungen werden des lebendigen Inhalts
entbehren, so lange er sich nicht entschliessen kann, ihre Vollstreckung zu regeln. Erst
im Strafvollzug gewinnt die Freiheitsstrafe ıhren Inhalt. Heute entbehrt das Deutsche Reich
eines einheitlichen Strafvollzuges. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe ist den Landesjustizver-
waltungen überlassen, wenn auch durch Vereinbarung der einzelstaatlichen Regierungen seit 1897
gewisse, freilich sehr unbestimmt gehaltene ‚Grundsätze‘ festgelegt sind. Die gegen Ausgang der
siebziger Jahre gemachten Versuche, zu einem Reichsgesetz über den Strafvollzug zu gelangen, sınd
gescheitert. So besteht heute auf diesem so überaus wichtigen Gebiete dıe grösstmögliche Zer-
fahrenheit. Hier Zellengefängnisse mit dauernder Trennung der Gefangenen voneinander, selbst in
der Kirche, der Schule und auf dem Spaziergang, dort gemeinschaftliche Anhaltung beı der Tages-
arbeit und während der nächtlichen Ruhe; hier unveränderte Gleichförmigkeit des Strafvollzuges
vom ersten Tage bis zur Stunde der Entlassung, dort ein progressiv gestaltetes System, das mit
Einzelhaft beginnt und den allmählichen Übergang zum Leben in der Freiheit ins Auge fasst.
Für die Regelung der Frage bietet sich ein doppelter Weg: Entweder die Einarbeitung der
auf den Strafvollzug sich beziehenden Bestimmungen ins Gesetzbuch selbst, wie das der Gegenent-
wurf versucht hat, oder aber die gleichzeitige Aufstellung des Entwurfes eines Strafvollzuges-
gesetzes, der mit dem Strafgesetzentwurf gemeinsam beraten und beschlossen werden müsste. Es
scheint, dass man an massgebender Stelle den letzteren Weg einschlagen wıll. Dagegen ıst nıchts
zu sagen. Unbedingt notwendig ist es aber, dass dem Strafzweck beı Ausgestaltung des Straf-
vollzuges die ausschlaggebende Bedeutung eingeräumt wird; dass ein und derselbe Grundgedanke
dıe Auswahl der Strafarten wie ihre Vollstreckung bestimmt.
VI. Das Strafverfahren.
Aufgabe des Strafprozesses ist es, das materielle Strafrecht ım Einzelfall zur Anwendung zu
bringen. Die Strafprozessordnung ist daher in ihrem gesamten Aufbau bedingt und bestimmt durch
das Strafgesetzbuch. Es war daher ein schwerer Fehler, dass die Reichsregierung allen Warnungen
zum Trotz den Versuch unternommen hat, zuerst die Neugestaltung des Strafverfahrens durchsetzen
zu wollen, ehe die Reform des Strafgesetzbuches, mit Einschluss des Strafvollzugsgesetzes, feststand.
Der Fehler hat sich gerächt: Der Entwurf einer Novelle zum Gerichtsverfassungsgesetz und einer
neuen Strafprozessordnung ist in letzter Stunde von dem Arbeitsprogramm des letzten Reichstages
abgesetzt worden. LangjährigeArbeit hat sich somit, zunächst wenigstens, als vergeblich erwiesen.
Dennoch kann dieser Ausgang nicht beklagt werden. Denn nun ist die Bahn frei zu einer gross-
zügigen Reform, die, von dem Strafgesetzbuch ausgehend, das Strafvollzugsgesetz organısch an-
gliedert und in dem Neubau der Gerichtsverfassung und des Strafverfahrens gipfelt. Mıt der Durch-
führung dieser Reform wird der Gedanke des Verwaltungsstaates auch auf diesem Gebiete gesell-
schaftlicher Lebensbedingungen den unfruchtbaren Doktrinarismus des blossen Rechtsstaates sıeg-
reich überwunden haben.