204 Paul Laband, Die Reform der Verfassung Elsass-Lothringens.
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staaten traten dadurch in ein helles Licht. Nurin einer Beziehung, nämlich hinsichtlich der Finanz-
wirtschaft, wurde das Reichsland vollkommen den Bundesstaaten gleichgestellt, da man sich nicht
dem Vorwurf aussetzen wollte, dass das Reich die finanziellen Hilfskräfte Elsass-Lothringens zu
seinem Vorteil ausbeute. Die Organisation des Reichs war aber nicht zur vollen Regierung eines
Landes eingerichtet und genügend, sondern sie bedurfte einer Ergänzung durch Behörden, welche
die dem Kaiser übertragene Staatsgewalt über Elsass-Lothringen zur Ausübung und Verwirklichung
brachten. Der Organisation des Reichs musste eine Organısation der Landesverwaltung hinzugefügt
werden durch Behörden, welche den ın den Bundesstaaten bestehenden Behörden entsprachen.
Das Reichsgesetz vom 23. Dezember 1871 regelte die Einrichtung der Verwaltung, zum Teil unter
Anschluss an die bestehende (französische) Behördenorganisation. Während die Zuständigkeit des
Reichs nach der Verfassung auf dıe Beaufsichtigung und Gesetzgebung über die im Art. 4 der R.V.
aufgezählten Angelegenheiten und die Verwaltungsbefugnisse auf einzelne, wenig zahlreiche Res-
sorts beschränkt war, hatte das Reich ın Elsass-Lothringen daneben die gesamte Zuständigkeit,
welche nach der R.V. den Bundesstaaten geblieben war. Daraus ergab sich die Unterscheidung von
Reichs- und Landesgesetzen, von Reichs- und Landesbehörden und Beamten, von Reichs- und
Landesvermögen, von Reichs- und Landesschulden und wenngleich die Reichsregierung und die
Reichslandsregierung ım Kaiser und seinem Reichskanzler eine gemeinsame Spitze hatten, so waren
sie doch tatsächlich von einander getrennt und praktisch namentlich durch die finanzielle Sonder-
wirtschaft des Reichslandes so scharf geschieden, dass die theoretische Identität von Reichsgewalt
und Reichslandsgewalt ganz ın den Hintergrund treten musste. Obwohl die Verwaltung des Reichs-
landes ein dem Kaiser und dem Reichskanzler unterstellter Zweig der Reichsverwaltung war, so
hatte sie doch teils wegen der dem Oberpräsidenten delegierten umfassenden Befugnisse, teils wegen
der von den Reichsfinanzen abgezweigten Landesfinanzwirtschaft das Gepräge einher der Reichsver-
waltung gegenüber stehenden Staatsverwaltung. Die Verfassung von Elsass-Lothringen enthielt
daher in sich selbst einen Gegensatz; das Grundprinzip war und blieb die Eigenschaft des Reichs-
landes, die volle und unbeschränkte Staatsgewalt des Reichs, welche das Reich durch den Frank-
furter Frieden erworben und ungeschmälert behalten hat; die Konsequenzen dieses Grundprinzips
aber waren abgeschwächt und umgebogen und die Einführung der R.V. selbst schien als das Ziel
der Entwicklung die Umwandlung des Reichslandes ın einen Bundesstaat in Aussicht zu stellen.
In dieser Richtung fielen die Wünsche der Bevölkerung und die Tendenzen der obersten
Landesbehörde zusammen. Die Bevölkerung, d. h. diejenigen Personen, welche sich zu deren
Führern aufgeworfen hatten und nicht durch gänzliche Fernhaltung von jeder politischen Teilnahme
gegen die Zugehörigkeit zum Reich protestierten, verlangte „Autonomie“, d. h die Regelung der
Landesangelegenheiten durch besondere und unabhängige Organe, also Beseitigung der Zuständig-
keit des Reichskanzlers, Bundesrats und Reichstags in Landesangelegenheiten, Errichtung eines
Landesministeriums, welches einem Landtage verantwortlich und somit der Majorität desselben
genehm und gehorsam ist und nach dessen Beschlüssen und Anträgen der Kaiser nach der Vorstel-
lungsweise des Parlamentarismus die Staatsgewalt auszuüben hat. Die Erfüllung dieser Wünsche
hätte die Folge gehabt, dass alle politisch wichtigen und einflussreichen Ämter im Lande, so weit
möglich, mit Personen besetzt worden wären, welche bereits vor dem Kriege ın Elsass-Lothringen
ansässıg waren oder von solchen abstammten, unter Ausschluss der aus den deutschen Bundes-
staaten Eingewanderten. Man erfand dafür das Schlagwort ‚„Elsass-Lothringen den Elsass-Loth-
ringern.““ Es ist nicht nötig, die weiteren Folgen einer solchen Besetzung der massgebenden Ämter
näher auszuführen.
Die obersten Landesbehörden standen solchen Wünschen zwar fern; aber sie fühlten sich
durch die Abhängigkeit von den Reichsbehörden und vom Bundesrat und Reichstag beengt und in
der Führung der Regierungsgeschäfte behindert. Die Zuständigkeit des Bundesrats schloss eine
Einmischung des preussischen Staatsministeriums mittelbar in sich, da die Instruktion der preussi-
schen Bundesratsbevollmächtigten von ihm beschlossen wurde. Die elsass-lothringische Regierung
stand daher unter dem Druck der preussischen, z. B. in Schul- und Universitätsangelegenheiten
und anderen Verwaltungszweigen, dessen Beseitigung ihr gewiss erwünscht gewesen wäre. An
Meinungsverschiedenheiten und Reibungen zwischen dem Oberpräsidenten und dem Reichskanzler