Paul Laband, Die Reform der Verfassung Elsass-Lothringens. >05
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oder dem Staatssekretär des Reichskanzleramts für Elsass-Lothringen fehlte es auch nicht und ob-
wohl der Oberpräsident die Verhältnisse des Landes und die Bedürfnisse der Verwaltung aus un-
mittelbarer Anschauung und Erfahrung kannte und ın vıelen Fällen gewiss besser würdigen konnte
als die Reichsbehörden in Berlin, so war doch seine Stellung dem Reichskanzler gegenüber die
schwächere, teils weil er dem Reichskanzler untergeordnet war, teils weil dieser Mitglied des Bundes-
rats und des preussischen Ministeriums war und den unmittelbaren Vortrag beim Kaiser hatte. Es
war begreiflich, dass der Oberpräsident eine Stärkung seiner Position anstrebte.
Das Mittel, welches er zu diesem Zwecke anwandte, erschien anfangs sehr harmlos, führte
aber sehr bald eine eingreifende Umgestaltung der Verfassung des Reichslandes und den Sturz des
Oberpräsidenten selbst herbei. Durch den Allerhöchsten Erlass vom 29. Oktober 1874, also kaum
10 Monate nach dem Inkrafttreten der Reichsverfassung, wurde nominell der Reichskanzler, in
Wahrheit der Oberpräsident, ermächtigt, „um die Verwaltung beı der Vorbereitung der Landes-
gesetze durch die Erfahrung und Sachkunde von Männern beraten zu sehen, welche durch das
Vertrauen ihrer Mitbürger ausgezeichnet sind, ın Zukunft Entwürfe von Gesetzen über solche An-
gelegenheiten, welche der Reichsgesetzgebung durch dıe Verfassung nicht vorbehalten sind, ein-
schliesslich des Landeshaushalts-Etats, einem aus Mitgliedern der Bezirkstage zu bildenden Landes-
ausschusse zur gutachtlichen Beratung vorzulegen, ehe sie den — — zuständigen Faktoren
der Gesetzgebung zur Beschlussfassung zugehen“. Auch durfte die gutachtliche Äusserung jener
Versammlung über Verwaltungsmassregeln allgemeiner Bedeutung, welche nicht gesetzlich der Be-
ratung oder Beschlussfassung der Bezirkstage unterliegen, vernommen werden. Die zur Beratung
bestimmten Vorlagen gingen dem Landesausschusse durch den Öberpräsidenten zu, welcher den
Sitzungen beiwohnen und sich durch Kommissare vertreten lassen durfte. Der Oberpräsident
und seine Vertreter mussten auf Verlangen jederzeit gehört werden. Die abzugebenden Gutachten,
welche die Beschlüsse der Plenarversammlung und die Begründung derselben, sowie die ın der
Minderheit gebliebenen Ansichten, enthalten sollten, wurden in beglaubigter Ausfertigung dem Ober-
präsidenten durch den Vorsitzenden zugestellt.
Durch die Bildung des begutachtenden Landesausschusses wurde weder an dem reichsver-
fassungsmässigen Wege der Landesgesetzgebung, noch an der Zuständigkeit des Reichskanzlers
und der Reichsämter eine Veränderung bewirkt; aber der Oberpräsident konnte seine Vorschläge
und Anträge durch Beifügung eines zustimmenden Gutachtens des Landesausschusses gegenüber
den vom Reichskanzleramt oder dem Preussischen Ministerium erhobenen Bedenken wırksam unter-
stützen. Die Entwicklung schritt aber schnell weiter fort. War erst eine Körperschaft zur Beratung
von Landesangelegenheiten aus Männern gebildet worden, ‚‚welche durch das Vertrauen ıhrer Mit-
bürger ausgezeichnet sind‘ ,so war damitder Grundgedanke einer Vertretungder elsass-lothringischen
Bevölkerung gegeben und es konnte nicht ausbleiben, dem Landesausschuss die regelmässigen
Rechte einer Volksvertretung beizulegen. Schon nach Verlauf von kaum 2%, Jahren durch das
Re:chsgesetz vom 2. Mai 1877 wurde bestimmt, dass bei den Landesgesetzen für Elsass-Lothringen,
einschliesslich des Landeshaushalts-Etats die Zustimmung des Reichstags durch die Zustimmung
des Landesausschusses ersetzt werden kann. Es wurde zwar die Erlassung von Landesgesetzen im
Wege der Reichsgesetzgebung vorbehalten; aber es war dies nur ein Notbehelf, von dem nur Ge-
brauch gemacht werden sollte, wenn es sich darum handelte, einen unberechtigten Widerstand des
Landesausschusses oder eine Budgetverweigerung desselben zu brechen. Bei der Haltung der
Majoritätsparteien des Reichstages war auch die Aussicht gering, dass ein vom Landesausschuss
abgelehntes Gesetz vom Reichstage angenommen werden würde, wenn dies nicht wegen dringender
Interessen des Reichs geboten schien. Für den regelmässigen Weg der Landesgesetzgebung, die
Feststellung des Landeshaushaltsttats und die Rechnungsprüfung und Entlastung war der Reichs-
tag ausgeschaltet und der Landesausschuss an seine Stelle getreten. Damit hatte der letztere die
wichtigsten und wesentlichsten Rechte einer Volksvertretung erhalten. Mit dieser Stellung des
Landesausschusses war es nun aber unverträglich, dass die obersten Verwaltungsbehörden für die
Landesangelegenheiten, der Reichskanzler und das Reichskanzleramt für Elsass-Lothringen und
das Reichsjustizamt ihren amtlichen Wohnsitz in Berlin hatten. Mit dem Landesausschuss verhan-
delten lediglich der Oberpräsident und die Räte des Oberpräsidiums als seine Kommissare, die