Ludwig Bernhard, Die preussische Polenpolitik.
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geübt und ein erstaunlicher Aufschwung des polnischen Lebens war die Folge. Zahlreiche polnische
Zeitschriften entstanden damals in Posen und die lange vereinsamte Provinzialhauptstadt wurde
unter der geistigen Herrschaft eines Raczynski, Marcinkowski, Liebelt, Moraczewski, Matecki, ein
Ausgangspunkt neuer geistiger Bewegung, sogar für dıe Polen im Auslande.
Bald aber erschienen in diesen Kreisen politisch interessierte Männer wie Mieroslawski und
Malinowski, die Emissäre der „demokratischen Gesellschaft“ (Towarzystwo demokratyczne),
ferner Witold Czartoryski, der sich als Abgesandter der „adligen‘“ Pariser Gruppe in Posen aufhielt.
Es begann ein Wetteifern zwischen der Czartoryskı-Partei und den Angehörigen der demokratischen
Gesellschaft, die zum grössten Teil aus Warschauer Liberalen bestand und in dieses Treiben mischte
sich allerlei Gesindel, das aus Russisch-Polen der gefürchteten Miılitäraushebung entfliehend, über
die Grenze gekommen war.
Der später mit Beschlag belegte und durch den Polenprozess bekannt gewordene Öperations-
plan zeigte, dass in allen polnischen Landesteilen der drei Teilungsmächte der Aufstand gleichzeitig
losbrechen sollte, und dass man die erwartete Unschlüssigkeit der Regierung benutzen wollte, um
die Aufständischen in bestimmten Sammelplätzen zu konzentrieren.
In wie nachlässiger und unfähiger Haltung die Regierung diesem Treiben gegenüberstand, ist
wohl bekannt. Obwohl man bereits zwei Jahre nach dem Beginn der Versöhnungspolitik in Berlin
wusste, dass die Provinz von gefährlichen Überläufern starrte, vermied es doch die Regierung, die
Kreisbehörden zu informieren, da man in dem heissen Wunsche ‚‚die Herzen zu gewinnen“ die Lokal-
behörden nach Möglichkeit von energischem Eingreifen zurückhalten wollte.
Dann brach der Aufruhr los, der über drei Jahre bald als unangreifbare Verschwörung, bald
als offene Empörung die Provinz in Erregung hielt und alle Arbeit unterbrach oder 'vernichtete.
Auf die Enttäuschungen der Versöhnungsära Friedrich Wilhelms IV. folgte eine Zeit der Ver-
nachlässigung unseres Ostens durch die preussische Verwaltung. Eine Neigung, die Provinz sich
selbst zu überlassen, entstand, und für das Beamtentum wurde der Osten eine Gegend der Ver-
bannung und Strafversetzung unfähiger oder missliebiger Männer. In einer Broschüre,?) die Anfang
der 60er Jahre wegen der Offenheit ihrer Sprache Aufsehen erregte, wurde geklagt, dass ‚‚die un-
tauglichsten und anrüchigsten Beamten” die Verwaltung der Provinz ın Händen hätten und unter
Nennung von Namen wurden Beweise hierfür erbracht.
So konnte es nicht Wunder nehmen, dass die preussischen Regierung den gefährlichen poli-
tischen Umtrieben Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre fast unvorbereitet und ohne Kenntnis
der Vorgänge gegenüberstand.3)
Trotzdem hielt auch Wilhelm I. es für seine königliche Pflicht, ungeachtet aller schlimmen
Erfahrungen, den Polen in vorsichtiger Weise entgegenzukommen, um durch neue Erfahrungen fest-
zustellen, ob jetzt vielleicht ein Einlenken möglich sei, nachdem die polnischen Hoffnungen im Jahre
1863 schweren Enttäuschungen gewichen waren.
4. Die Versöhnungspolitik Wilhelms 1“ und ihre Folgen.
Der Minister des Innern, Graf Eulenburg, legte Wert darauf, insbesondere zur polnischen
Geistlichkeit gute Beziehungen zu haben, obwohl der damalige Oberpräsident von Horn die Re-
gierung warnend auf die nationalpolnischen Umtriebe hinwies. Polnische Organisationen von
mancherlei Art entstanden ın grosser Menge, und ıhre Bestrebungen fanden in Berlin bei der katho-
lischen Abteilung des Kultusministeriums und beim Kabinett der Königin einen Halt. Wiederum
2) Kattner: Ist Polen ein Bollwerk Deutschlands? Bromberg 1862,
3) Vgl. „Die Protokolle des Polenprozesses von 1864.“ Culm 1864.
4) Wenn einmal die Archive jener Zeit der Forschung geöffnet werden, wird sich zeigen, dass die Jahre 1864
bis 1872 nicht, wie man heute wohl allgemein annimmt, eine ‚Ära der Duldung‘‘ waren, sondern geradezu Ver-
söhnungspolitik getrieben wurde, die Bismarck selbst damals gewünscht hat. Die später im Interesse einer ‚‚Con-
tinuität‘‘ der Bismarck’schen Polenpolitik konstruierte Legende, als habe Bismarck sich von 1864 bis 1872 „aus
Mangel an Zeit‘ mit der Polenfrage nicht beschäftigen können, wird den in den Akten festgestellten Tatsachen
nicht standhalten können.