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Ludwig Bernhard, Die preussische Polenpolitik. 219
Stellen einen Rückhalt, während die preussischen Lokalbehörden, die Regierungspräsidenten und
die Landräte ‚um die Versöhnung nicht zu stören“ ın ihrer Aktionsfreiheit gebunden wurden. So
wurde die preussische Verwaltung mattgesetzt, eine Situation, die von den Polen stets politisch aus-
genutzt worden ist.
Für die preussische Staatsverwaltung ergibt sich hieraus dieselbe Lehre, die Österreich in
schlimmen Erfahrungen erkennen musste: In den Gebieten des Nationalitätenkampfes treten die
nationalen Differenzen heute mit solcher Wucht auf, dass sie alle Kräfte und Einrichtungen in
ihren Dienst zwingen. Weder Staat noch Kirche können sıch dem entziehen. Mit friedfertigen und
menschenfreundlichen Phrasen ist solche Situation nicht zu überwinden, vielmehr hat die Staatsver-
waltung nur die Wahl, ob sie beherrschend in den Kampf eingreifen oder — ein Popanz der Parteien
werden will. In beiden Fällen ändert die Staatsverwaltung ihr normales Aussehen: sie erweicht ent-
weder wie in dem Kampfgebiete Österreichs oder sie muss hart und scharf werden.)
LI.
Der wirtschaitliche Kampf um die Ostmarken und die Ansiedelungspolitik.
l. Der Tıefstand der polnischen Wirtschaft.
Bis zum Anfang der 80er Jahre hielt niemand für möglich, dass die Polen einen wirtschaft-
lichen Kampf mit den Deutschen wagen könnten. Die ‚polnische Wirtschaft“ war sprichwörtlich
geworden für Unordnung und Schlaffheit. Über ‚das unordentliche Polenzeug‘“ hatte schon
Friedrich der Grosse geklagt, als er die wirtschaftlichen Verhältnisse in den neu erworbenen Landes-
teilen kennen lernte. Und noch 1870 schrieb ein kluger Beobachter: ‚Es ist eine Schmach zu sehen,
so eine polnische Bauernwirtschaft!"6) Ungenügende Bestellung des Bodens und jammervolle Ernten,
Wucher, Trunkenheit und Verfall. Nicht anders der polnische Grossgrundbesitz, der zum Teil ver-
sumpft oder verdorrt dalag, wenn nur der Rest genügte, um die Kosten der jährlichen Reise nach
Paris zu bezahlen. Kein Wunder, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts der Grundbesitz allmählıch ın
deutsche Hände überging' und die Deutschen, die kaum %, der Bevölkerung ausmachten, Anfang
der 80er Jahre etwa 3/. des Bodens in Händen hatten. Ebenso wurde der Handel und die junge
Industrie von Deutschen geleitet; Deutsche, die im Gegensatz zu den Polen meist zweisprachig
waren‘), beherrschten das Wirtschaftsleben.
5) In dieser Überzeugung hat Bismarck noch im Jahre vor seiner Entlassung dafür Sorge getragen, dass
die Posener Provinzialverfassung mit Kautelen versehen wurde. Sie sind im Gesetz über die Allgemeine Landesver-
waltung und Zuständigkeit der Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbehörden in der Provinz Posen vom 19. Mai
1889 enthalten und lauten:
In Artikel III: Die gewählten Mitglieder des Provinzialrates und des Bezirksausschusses bedürfen der Be-
stätigung des Ministers des Innern resp. des Oberpräsidenten.
Wird die Bestätigung versagt, so wird zu einer neuen Wahl geschritten. Wird auch diese Wahl nicht be-
stätigt, so hat die zur Bestätigung berufene Behörde das Mitglied zu ernennen.
In Artikel IV: Der Kreisausschuss besteht aus dem Landrate als Vorsitzenden und sechs Mitgliedern,
welche von dem Öberpräsidenten aus der Zahl der Kreisangehörigen ernannt werden.
Die Ernennung erfolgt auf Grund von Vorschlägen des Kreistages. Lehnt der Kreistag die Aufforderung
des Oberpräsidenten zur Vervollständigung dieser Vorschläge ab, so hat der Provinzialrat auf Antrag des Ober-
präsidenten darüber zu beschliessen, ob und welche Personen nachträglich in die Vorschlagsliste aufzunehmen sind.
Lehnt der Provinzialrat die Zustimmung ab, so kann dieselbe auf Antrag des Oberpräsidenten durch den
Minister des Innern ergänzt werden. |
In Artikel V: Die Mitglieder des Provinzialausschusses und deren Stellvertreter bedürfen der Bestätigung
des Ministers des Innern.
Wird die Bestätigung versagt, so schreitet der Provinziallandtag zu einer neuen Wahl.
Wird auch diese Wahl nicht bestätigt, so kann der Minister des Innern die kommissarische Verwaltung der
Stelle auf Kosten des provinzialständischen Verbandes anordnen.
6) H.(undt) von H.(afften): Das Verhältnis der Provinz Posen zum preussischen Staatsgebiete. — 1870.
?) Leo Wegener, 1. c. 8. 76.