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Fritz Zadow, Der deutsche Kolonialbestand.
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der tatsächlichen Verhältnisse, die bei der niedrigen Kulturstufe, auf der die Eingeborenen stehen,
die Einführung deutscher Gerichtsbarkeit durchaus unzweckmässig erscheinen liessen, zumal
eine ungeschickte Handhabung der Hoheitsrechte durch Deutsche leicht zu erheblichen Schwierig-
keiten in den Beziehungen zu den Eingeborenen führen konnte. Trotz der Gültigkeit der Verträge
ıst in ihrem Vorhandensein durchaus keine ernstliche Schranke der Souveränetät des Reiches zu
erblicken. Vielmehr stellt die Gesamtheit der Häuptlinge eine privilegierte Untertanen-
klasse?°)dar, da man die den Häuptlingen gewährten Rechte als Privilegien bezeichnen
kann, die auch von der Reichsregierung wieder entzogen werden dürfen, wie dies vor allem in
Deutsch-Südwestafrika geschehen ist.
Die Streitfrage, welche Stellung die Kolonıalgesellschaften einnehmen, ist
heute nicht mehr von praktischem Interesse, weil ihnen öffentlich-rechtliche Befugnisse nicht mehr
zustehen. Vor Erteilung der Schutzbriefe besassen sie keine Hoheitsrechte; nachher übten
sie zwar Hoheitsrechte aus, aber nicht als eigene, sondern nur im Namen des Reiches.
Da mithin weder Häuptlinse noch Kolonialgesellschaften die Staatsgewalt des Reiches
zu beschränken vermögen, so ist die Schutzgewalt inallen Schutzgebieten die vollesouveräne
Staatsgewalt.
Wenn die Schutzgebiete somit der Staatsgewalt des Reiches unterliegen, so umfasst die
Schutzgewalt als solche auch die ‚Gebietshoheit“,, d. h. sie erstreckt sich auf die Schutzge-
biete selbst, nıcht nur auf die dort lebenden Personen, was sich aus ıhrem Charakter als souveräne
Gewalt ergibt. Gebietshoheit Ist dıe Staatsgewalt selbst ın Beziehung auf das Staatsgebiet. Die
sogenannten Schutzgebiete sind also Objekte der Staatsgewalt und die Gebietshoheit des
Reiches über sie ist inhaltlich ebenso unbeschränkt wie.die Staatsgewalt.
dA Der Umfangder Schutzgewalt.
Die Frage nach dem territorialen Umfang deckt sıch mit der Frage nach dem rechtlichen
Charakter der sogenannten ‚„Interessen- bezw. Machtsphären“. Er handelt sich hierbei um solche
Gebiete, von denen der Kolonien erwerbende Staat tatsächlichen Besitz noch nicht ergriffen, über
die er aber mit anderen Kolonialmächten völkerrechtliche Abmachungen und Verträge geschlossen
hat, wonach die Gebiete des staatlichen Einflusses beider Parteien durch nach Längen- und Breiten-
craden bestimmte Linien vorläufig umgrenzt werden. Diese Verträge werden in erster Linie deshalb
veschlossen, um Streitigkeiten zwischen den Kolonialmächten um die zukünftige Ausdehnung
ihres Besitzes und ihres Einflusses zu vermeiden; dann aber haben sıe sıch deshalb als notwendig
erwiesen, weil der völkerrechtliche Rechtstitel der Okkupation zu seiner Gültigkeit verlangt, dass
dem Prinzip der Effektivität gemäss Art. 35 der Kongo-Akte Genüge geleistet wırd. Da aber eine
Besitznahme ausgedehnter Landstrecken von vornherein im vollenUmfangenicht immer durchführbar
ist, so lässt sich die Kolonien erwerbende Macht durch die Verträge betreffend Abgrenzung der Inter-
essensphäre zunächst nur annähernd das Gebiet bestimmen, innerhalb dessen es ıhr allein gestattet
sein soll, Okkupationshandlungen vorzunehmen; mit der effektiven Okkupation geht die Kolonial-
macht dann erst schrittweise vor. Da die mit den remden Kolonialmächten geschlossenen Verträge
nur ein völkerrechtliches ‚jus excudendi alıos, also ein ausschliessliches Okkupationsrecht vor
allen fremden Staaten gewähren und da ferner zwischen dem Reich und jenen Interessensphören
nicht staatsrechtliche Beziehungen bestehen, wie sie der rechtliche Begriff der Schutzgewalt
erfordert, sondern nur lose völkerrechtliche Zusammenhänge, so erstreckt sich nach der herrschenden
Meinung die Schutzgewalt des Reiches nıcht über diese Interessensphären.
Eine besondere Stellung innerhalb der Interessensphären nimmt die sogenannte 50-Kilometer-
Zone in Kiautschou ein. Da der Kaiser von China die ihm über dieses Gebiet zustehende Souve-
ränetät nicht aufgegeben hat, so ist es chinesisches Staatsgebiet geblieben. Man wird die dem
deutschen Reich zustehenden Rechte in diesem Gebiet mit Laband’)als „Staatsservituten‘
bezeichnen dürfen.
9) Sassan S. 606.
30) Staatsrecht II, S. 269.