Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

  
Hans Plehn, England und Deutschland. 311 
  
  
  
  
  
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verhandeln; und es schien, als ob die englisch-russische Entente auch auf die europäische Politik 
ausgedehnt werden sollte. Die österreichisch-russische Balkan-Entente war, wie das österreichische 
Sandschakbahnprojekt erkennen liess, zu Ende; und der Besuch König Eduards in Reval (Juni 1908) 
wurde allgemein als das Anzeichen einer neuen Phase der englisch-russischen Politik aufgefasst. 
Die jungtürkische Julirevolution bereitete diesen Plänen ein schnelles Ende. In der Balkankrisis 
stand die Tripleentente gegen Österreich und Deutschland. Aber innerhalb der Tripleentente arbeı- 
tete Frankreich aufs eifrigste für den Frieden, während Russland selbst keinen Krieg führen konnte. 
Italien, dessen öffentliche Meinung, ım Gegensatz zu der Politik Tittonis, den österreichischen 
Annexionsplan anfänglich aufs schärfste bekämpft hatte, leistete später ebenfalls schätzenswerte 
Vermittlerdienste, und schloss sich wieder enger an den Dreibund an, je deutlicher die Stärke der 
verbündeten Mächte zutage trat. Die Trıpleentente hatte gegen die Zentralmächte nichts ausrichten 
können, und Russland beabsichtigte, zumal nach dem Rücktritt Iswolskis nicht, den Versuch zu 
wiederholen, sondern zog eine Annäherung an Deutschland vor. Auch während der Krisis waren 
die Beziehungen zwischen den beiden Höfen nie abgerissen, und im August 1911 kam ein Vertrag 
zwischen Deutschland und Russland zustande, ın dem Russland seinen Widerstand gegen die Bagdad- 
bahn aufgab und die rein wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in Persien anerkannte. 
In den deutsch-englischen Beziehungen war seit den Jahren 1904 und 1905 allmählich 
eine Besserung eingetreten. Die wirtschaftliche Konkurrenz wurde unter dem Einfluss der guten 
Wirtschaftsjahre weniger empfunden. Gegenseitige Besuche verschiedener Körperschaften trugen 
dazu bei, die Verbitterung der öffentlichen Meinung hüben und drüben etwas abzuschwächen. 
Die liberale Regierung setzte zwar die auswärtige Politik ihrer Vorgänger fort, hatte aber zugleich 
den Wunsch, zu besseren Beziehungen zu Deutschland zu gelangen. Die wichtigsten direkten 
Gegensätze, die zwischen beiden Ländern bestanden, betrafen die Flottenfrage und die Bagdad- 
bahn. Der Gedanke des englischen Liberalismus, die Seerüstungen beider Nationen durch ein Ab- 
kommen zu Tegeln, liess sich natürlich nicht verwirklichen. Die englische Regierung wandte im 
März 1909 das gewaltsame Mittel einer Flottenpanik an, um den Widerstand des radikalen Partei- 
flügels gegen ihre grossen Mehrforderungen zu überwinden. Seitdem. trat in England eine Be- 
ruhigung ein. Das zeigte sich namentlich bei den Dezemberwahlen von 1910, wo auch die Unionisten 
erkannten, dass die antıdeutsche Agıtation bei den Wählerschaften kein Echo mehr fand. Auch in 
der Bagdadbahnfrage trat eine Entspannung ein; die Bagdadbahngesellschaft und die türkische 
Regierung kamen überein, dass dıe Bahnstrecke von Bagdad bıs Basra unter gewissen Bedingungen 
internationalisiert werden könne. Ferner wırkte die deutsch-russische Annäherung günstig auf 
die deutsch-englischen Beziehungen. Während ın der Zeit des englisch-russischen Gegensatzes eine 
deutsch-englische Annäherung leicht ın Petersburg verstimmte, und eine deutsch-russische in 
London Besorgnisse erregte, hat die Entente von 1907 diese Verhältnisse geändert. Die deutsch- 
russische Annäherung war ın gewissem Masse sogar geeignet, eine deutsch-englische Verständigung 
zu erleichtern, da sıe England die Gelegenheit nahm, ım nahen Osten und in Persien die russische 
Politik gegen Deutschland zu unterstützen. Indes war der deutsch-englische Gegensatz keineswegs 
alleın eine Folge von Fragen, dıe beide Länder direkt berührten. Seitdem sich die englische Politik 
nach Frankreich orientiert hatte, und vor allem seit der ersten Marokkokrisis waren die deutsch- 
englischen Beziehungen ganz wesentlich durch die deutsch-französischen bestimmt. Die zweite 
Marokkokrisıs von 1911 musste daher wiederum einen Rückschlag ın den deutsch-englischen Be- 
ziehungen verursachen. England unterstützte dıe französısche Politik, teils auf Grund seiner 1904 
eingegangenen Verpflichtungen, teils ın der Absicht, eine Isolierung und eine diplomatische und 
letzten Endes eine militärische Niederlage Frankreichs zu verhindern. 
Aber noch während der Marokkokrisis zeigte sıch’s, dass innerhalb der englischen Regierung 
eine Richtung bestand, die das Ziel einer schliesslichen Verständigung mit Deutschland nicht aus 
den Augen verloren hatte. Nach Beendigung der Krisis entstand eine starke politische Bewegung, 
die die englische Politik während des deutsch-französischen Konfliktes scharf kritisierte und um so 
energischer auf Anbahnung guter Beziehungen zu Deutschland drängte, als dıe leidenschaftliche 
Erregung, die sich der öffentlichen Meinung in Deutschland bemächtigte, vorzugsweise gegen Eng- 
land gerichtet war. In der Tat hatte die endgültige Liquidation der Marokkofrage des bedeutendste 
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
 
	        
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