Paul Wölbling, Der Tarifvertrag. 93
die Arbeitervereinigungen (von Ihnen selbst meist Organisationen genannt, nach der Terminologie
der Gewerbeordnung $$ 152, 153: Vereinigungen zwecks Erlangung besserer Lebens- und Arbeits-
bedingungen, Koalitionen), aber auch unorganisierte Gesamtheiten durch in Volksversammlungen
gewählte Vertreter sogenannte Tarıfverträgeab. Während die sıch bildenden Unternehmer-
organisationen zunächst andere Aufgaben hatten, wie den Kampf gegen die Arbeiter (ich erinnere
an Kartelle, Syndikate, Innungen) bildeten sich nun auch Arbeitgeberverbände, deren Aufgabe es
sein sollte, die Arbeitsverträge im Sinne der Unternehmer zu verbessern, nötigenfalls durch Bekämp-
fung der Arbeiter. Während die Unternehmerverbände aber zunächst die Tarifverträge ablehnten,
meist mit der Motivierung, dass dıe Arbeiterverbände keine genügende Garantie für ihre Innehaltung
böten, sind neuerdings gerade von den Unternehmerverbänden Tarıfverträge von den Arbeitern
gefordert, sogar erzwungen worden, so im Jahre 1910 vom deutschen Arbeitgeberbund für das
Baugewerbe.!)
Es wurden Ende 1908 vom Kaiserlichen Statistischen Amt 5671 Tarifverträge für 120 401
Betriebe mit 1026385 Arbeitern, Ende 1911: 10520 Tarıfverträge für 183232 Betriebe mit
+ 1552 827 Arbeitern gezählt, aber diese Statistik ist nicht vollständig.
Die Förderung des Tarıfwesens ging ursprünglich von den Arbeitern aus. Die älteste deutsche
Tarıfgemeinschaft, die der Buchdrucker, führt ihre Anfänge bis auf das Jahr 1848 zurück. Träger der
Tarifverträge sind hauptsächlich die Gewerkschaften gewesen. Die sozialdemokratischen freien
(rewerkschaften sınd den Tarıfverträgen gegenüber etwas zurückhaltender geworden, besonders
seitdem das Erstarken der Arbeitgeberverbände die Erlangung günstiger Bedingungen für die
Arbeiter erschwert hat.) -Wie schon gesagt, haben nunmehr z. T. Arbeitgeberverbände mehrfach
ım Gegensatz zu den Gewerkschaften Tarifverträge gefordert. Während diese meist eine rechtliche
Bindung und vermögensrechtliche Haftung der Gewerkschaften verlangen, streben die Gewerk-
schaften, die anfangs eine durchgreifende Rechtswirksamkeit, die autonome Schaffung von neuen
Rechtssätzen, insbesondere die sogenannten Unabdingbarkeit forderten, nach einem” Ausschluss
jedes vermögensrechtlichen Anspruches aus den Tarifvertrag.?) Offenbar besteht in diesem Punkte
augenblicklich eine grosse Unsicherheit. Der deutsche Bauarbeiterverband scheint sein Bedenken
gegen die vermögensrechtliche Bindung aufgegeben zu haben, ist aber dafür zu einer unglücklichen
Fassung der Schiedsklausel gekommen.) Die Stellung der Gewerkschaften wırd veranlasst durch
dıe Furcht vor einer Vernichtung durch Inanspruchnahme ihres Vermögens zum Ersatze des Scha-
dens infolge einer Lohnbewegung. Unzweifelhaft liegt die Abwendung eines solchen Schadens
heut und vielleicht auch künftig gar nicht in der Macht der Gewerkschaftsvorstände, somit nicht
ın Abrede gestellt werden kann, dass die Gewerkschaftsleiter in einzelnen Fällen selbst schuld sınd
an der vertragswidrigen Verursachung von Streikschäden. Trotz der erheblichen Einnahmen der
Gewerkschaften reicht deren Vermögen für die Deckung solcher Schadensansprüche, deren Höhe
gegebenenfalls ganz unübersehbar ist, nicht aus und dasselbe dürfte, woran die Arbeitgeber meıst
nıcht denken, auch bei den Unternehmerverbänden der Fall sein. Die Erhaltung der beiderseitigen
Verbände erscheint aber im Interesse der Herbeiführung geregelter Beziehungen zwischen Unter-
nehmern und Arbeiterschaft aus allgemeinen staatlichen Gründen geboten.
Ablehnend gegenüber den Tarifverträgen hält sich noch die deutsche Grossindustrie. Da
aber auch sie schon mit der Arbeitervereinigungen zu verhandeln anfänst, muss sie mit Not-
wendigkeit auch zum Abschluss von Tarifverträgen kommen.
Von den politischen Parteien hat das Zentrum bereits 1905 und später nochmals 1908 einen
Antrag auf gesetzliche Regelung der Tarifverträge gestellt. Am 11. 2. 1908 folgte die nationallıberale
Partei mit dem auf dasselbe \Ziel gerichteten Antrag Jungk.®) In dem von der Regierung im
1) Die Erneuerung der baugewerblichen Tarifverträge im Jahre 1910, herausgegeben vom deutschen Arbeit-
geberverbande für das Baugewerbe (Eingetrag. Verein) Berlin 1911.
2) cf. Braun a. a. O0.
3) Vergl. Buchdruckertarif, Tarifvertrag im deutschen Baugewerbe; Deutsche Juristen-Zeitung XVI, 852.
4) Vergl. Gewerbe- und Kaufmannsgericht XVIII, 477 ff.
>) Von sozialdemokratischer Seite sei der an australische Vorbilder sich anlehnende Vorschlag von Schmidt
in den Sozialistischen Monatsheften 1908, S. 499 £ erwähnt. Vergl, Gen.-Vers. der Ges. f. Soziale Reform 1913.