Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

  
Paul Wölbling, Der Tarifvertrag 25 
U 
d. h. über das ganze Reich verbreitete Organisationen zum Abschluss von Tarifverträgen, deren 
Inhalt sie in gewissen Punkten festlegen. 
Sowohl für die Generaltarifverträge,!°) wie für die übrigen Tarifverträge erscheint die soge- 
nannte kombinierte Theorie am meisten Anerkennung gefunden zu haben, derzufolge sowohl 
die vertragschliessenden Vereine, wie deren Mitglieder unmittelbar durch den Tarifvertrag berechtigt 
und verpflichtet werden, die Vereine aber nicht ın der Weise, dass sıe ein tarıftreues Verhalten ihrer 
Mitglieder garantieren, sondern nur ein solches ın den Grenzen der Möglichkeit herbeizuführen ver- 
sprechen.!!) Die Arbeitsverträge sollen nach dem Tarıfvertrage ohne weiteres den durch diese ver- 
einbarten Inhalt haben ; natürlich tritt die Wirkung nur ein insoweit, als dıe Parteien des Einzelarbeits- 
vertrages nichts Gegenteiliges verabredet haben. Tarıfwidrige Dienstverträge dürfen die einzelnen 
tarıfgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht schliessen und die vertragschliessenden Vereine 
dürfen solche Verträge nicht dulden. Sie sind gehalten, tarıfwidrige Verträge wieder rückgängig zu 
machen und haften für den durch Zuwiderhandlung entstehenden Schaden. Die sog. automatische Wir- 
kung oder Unabdingbarkeit der Tarıfverträge, derzufolge dıe einzelnen Arbeitsverträge selbst gegen 
den ausdrücklichen Willen derjenigen, die diese Arbeitsverträge schliessen, einen tarıfmässigen 
Inhalt haben sollen, wırd jetzt von der Wissenschaft und Praxis überwiegend abgelehnt und ist — 
wie die Reichsregierung anerkannt hat — für die Gesetzgebung nicht brauchbar. Der Tarifvertrag 
hat aber unbestreitbar die Neigung, seine Wirkung auf alle Angehörigen eines bestimmten Gewerbes 
oder eines abgegrenzten Teiles desselben innerhalb eines räumlichen Gebietes für dıe Dauer seiner 
Geltung auszudehnen. Jeder Vertragsteil ıst daher für dıe Regel bereit, jedem Dritten die 
Vorteile aus dem Tarifvertrage gegen Übernahme der Pflichten aus demselben zuzugestehen. Der 
Inhalt des Tarıfvertrages bildet sonach auch eine Offerte an die genannten Personen, welche die 
Tarifparteien dieser dritten Personen zugleich mit dem Abschluss des Tarıfvertrages machen. Auf 
demselben Grunde beruht eine weitere — an sich nicht eigenartige — Wirkung, dass der Inhalt 
längere Z>it dauernder und von der grossen Mehrheit der Angehörigen eines Gewerbes befolgter 
Tarifverträge als Auslegungsregel für die Verträge der übrigen Angehörigen dieses (Gewerbes dienen 
kann. Die Arbeitsordnung gemäss $ 134 B. G. B. bildet eine Klausel der Dienstverträge eines be- 
stimmten Betriebs. Sie kann aber in einigen Punkten nicht durch Vertragabgeändert werden, also auch 
nicht durch den Tarifvertrag. Der tarıfgebundene Arbeitgeber hat aber die Verpflichtung, so weit dies 
rechtlich in seiner Macht steht, seine Arbeitsverträge in Übereinstimmung mit dem Tarifvertrag 
zu bringen. Da nicht immer alle Arbeiter eines Betriebes unter den Tarifvertrag fallen, so kann 
von einer Einwirkung des Tarıfvertrages auf die Arbeitsordnung soweit diese Arbeiter ın Betracht 
kommen, natürlıch gar keine Rede sein. Die Arbeitsverträge der übrigen Arbeiter und folglich die 
auf der Arbeitsordnung beruhenden Klauseln dieser Arbeitsverträge unterliegen derselben Eın- 
wirkung durch die Tarifverträge, wie andere Arbeitsverträge, nur mit der einen Einschränkung, 
dass der nach dem Gesetz unabänderliche Teil der Arbeitsordnung dem Tarifvertrag stets 
vorgeht. 
Durch den Tarifvertrag wird in vielen Fällen eine Tarifgemeinschaft begründet mit dem 
Zwecke, eine Reihe den Parteien des Tarıfvertrags gemeinsamer Ziele durch gemeinschaftliche 
Betätigung zu befördern, dahın gehört die Durchführung, Fortbildung und Ausdehnung des Tarıf- 
vertrags, dıe Schlichtung und Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten,??) die Arbeitsvermittlung,'®) 
  
  
  
  
10) Beispiele die Tarifverträge im deutschen Baugewerbe von 1910 u. 1913. 
11) Reichsgerichts-Entscheidung abgedruckt im Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften Deutschlands, 
1912 Nr. 4 S. 57f (ohne Datum) i. ıS. Schütt gegen den Zentralverband christlicher Holzarbeiter. 
1?) Dieser kann z. B. in der Verursachung eines Lohnkampfes durch ein derartiges tarifwidriges Verhalten 
einzelner bestehen. Dann ist die Höhe des zu ersetzenden Schadens unübersehbar. Der Tarifbrüchige ist daher 
in einem solchen Falle der Gefahr vollständiger wirtschaftlicher Vernichtung ausgesetzt, gewiss ein ge- 
nügender Schutz der Tarifverträge! cf. Urteil des Gewerbegerichts Berlin vom 7. 7. 1909. Das Gewerbe- 
Kaufmannsgericht XV. 36. Schriften der Ges. f. Soz. Reform Nr. 42 ff. 
13) 5. Wölbling, Soziale Praxis, XXIII. Ders., Gewerbe-Kaufmannsgericht XVIII, 529. Ders., Mit- 
teilungen der Zentralstelle des deutschen Städte-Tages, IV, 11—14. Ders., Voss. Zeitung vom 13. u. 
18. 9. 1913. 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.