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i Wilhelm Feldmann, Die Türkei nach dem Balkankrieg.
So scheint denn der Dreibund jetzt wiederum fester und einiger, als lange Jahre zuvor.
Schwieriger ist es zu sagen, wıe es augenblicklich mit dem inneren Zusammenhalte des Drei-
verbandes bestellt ist; doch sprechen mancherlei Anzeichen dafür, dass der Höhepunkt der englisch-
deutschen Spannung überwunden, dass die englische Politik nicht mehr in dem Grade, wie vorher,
von der Tendenz getragen ıst, unter Hintansetzung aller ihrer anderen Interessen und sonstigen
natürlichen Gegensätze zu den übrigen Mächten allein die Niederhaltung und künftige Nieder-
werfung Deutschlands ıns Auge zu fassen. Und Eines ist sicher: weder England noch auch Russland
werden sich von Frankreich als Vorspann für dessen Revanchegelüste gebrauchen lassen, vielmehr
sich ihrer als Vehikel bedienen, um Frankreich mit sich fortzureissen, wenn ihnen einst daran liegen
sollte, ihres Interesses halber gegen Deutschland und den Dreibund loszugehen. Ob sıch ihnen
dafür in absehbarer Zeit ein Anlass bieten wırd, ist eine Frage, auf welche die Antwort nicht in den
Bereich der Geschichte gehört; wer die gegenwärtige Lage der Dinge mit kühlem Blicke betrachtet,
wird wohl mehr zu der Überzeugung hinneigen, dass ein kriegerischer Zusammenstoss zwischen
Dreibund und Dreiverband zur Zeit nıcht gerade als eine aus der bisherigen Entwicklung sich un-
abweisbar ergebende Notwendigkeit betrachtet zu werden braucht.
106. Abschnitt.
Die Türkei nach dem Balkankrieg.
Von
Dr. Wilhelm Feldmann, Konstantinopel.
Die Türkei hat durch den Balkankrieg von den rund 170000 Quadratkilometern Fläche,
die das Gesamtgebiet der sechs europäischen Wilajets des Osmanischen Reiches — Adrianopel,
Salonık, Monastir, Kossowo, Janina, Skutarı — darstellten, rund 155 000 Quadratkilometer mit
etwa 5 Millionen Einwohnern verloren. Nach einer im bulgarischen Generalstab ausgearbeiteten
Statistik liess der Friede von Konstantinopel (29. September 1913) von dem einstigen Gebiet des
Wilajets Adrianopel 16 201 Quadratkilometer mit 725 000 Einwohnern ım Besitz der Türkei. Dazu
kommen in Europa noch der unabhängige Sandschak Tschataldscha (1900 Quadratkilometer mit
60 000 Einwohnern) und der europäische Teil des Wilajets Konstantinopel (3000 Quadratkilometer
mit rund 900 000 Einwohnern). Alles in allem sind der Türkei also nach diesen Ziffern, die allerdings
wohl kaum als absolut zuverlässig betrachtet werden dürfen, etwa 21 100 Quadratkilometer mıt
annähernd 1 700 000 Einwohnern in Europa verblieben. Der Londoner Präliminarfriede (30. Mai
1913) hatte die europäische Türkei auf 14 000 Quadratkilometer mit rund 1 400 000 Einwohnern
reduziert. Die Türkei hat mithin durch den entschlossenen Vormarsch nach Adrianopel und
Kirkkilisseh im Juli 1913 ohne Blutvergiessen mehr als 7000 Quadratkilometer mit 300 000 Eın-
wohnern zurückerobert und damit zugleich den Grundsatz vernichtet, dass die Osmanen einmal ver-
lorenes Gebiet in Europa um keinen Preis wiedererhalten dürfen. Zum Vergleich sei daran erinnert,
dass die asiatische Türkei auf rund 1 800 000 Quadratkilometer mit etwa 17 Millionen Einwohnern
geschätzt wird.