Wilhelm Feldmann, Die Türkei nach dem Balkankrieg.
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Die europäische Auffassung von der Bedeutung des verlorenen Krieges für die Zukunft der
Türkei ist noch vor den endgültigen Fricdensschlüssen einer interessanten Revision unterworfen
worden. Nach der Schlacht beı Lüleburgas und noch ım Januar 1913 neigte man in Europa vielfach
zu der Ansicht, dass die völlige Auflösung des Osmanischen Reiches nahe bevorstehe. Und fast
allgemein war die Überzeugung verbreitet, dass die Türkei bei Erörterung künftiger Balkanmöglich-
keiten nicht mehr als ernster Faktor ın Rechnung zu stellen sei. Die Stimmen, die so das Ende
der europäischen Bedeutung des Osmanischen Reiches vorschnell proklamierten, sind seit dem
Bekanntwerden der türkısch-bulgarischen Annäherung verstummt. Man zweifelt nıcht mehr
daran, dass die Türken als Verbündete Bulgariens bei der wohl allgemein für unvermeidlich gehal-
tenen neuen Auseinandersetzung auf dem Balkan ein entscheiderdes Wort mitzusprechen haben
werden. Diese Annahme beruht hauptsächlich auf der — zuerst vom Generalfeldmarschall v. d.
Goltz nachdrücklich betonten — Tatsache, dass dıe militärısche Macht der Türkei durch die
grossen Gebietsverluste in Europa so gut wie gar nıcht berührt wırd. Die europäischen Bestand-
teile des osmanischen Heeres haben sıch ım Balkankrıeg fast durchweg als äusserst unzuverlässig
erwiesen. Was die Türken ın militärischer Hinsicht geleitet haben — man denke an die tapfere
Verteidigung von Adrianopel, Skutarı und Janina, an die Teilerfolge der osmanischen Truppen
in der fünftägigen Schlacht beı Lüleburgas und Wisa sowie an die erfolgreiche Abwehr der bulga-
rischen Angriffe auf die Tschataldschalinien — ıst ausschliesslich auf das Konto der anatolischen
Truppen zu setzen. In welchem Umfang die Anatolier, also die eigentlichen Türken, die Last des
Krieges getragen haben, ergibt sıch aus statistischen Angaben des deutschen Chefs der osmanischen
Sanitätsverwaltung, Professor Wieting Pascha, über dıe Verluste der türkischen Ostarmee bis zum
Waffenstillstand vom 3. Dezember 1912. Nach Wietings Angaben über die Verwundeten kamen auf
16 491 Türken nur 150 Armenier, 320 osmanische Griechen, 35 Israeliten, 25 osmanische Bulgaren,
2 Wallachen, 5 osmanische Serben. (Vergl. Feldmann, Kriegstage in Konstantinopel, 8. 69.) Die
Reorganisation der Armee auf Grund der im Kriege gemachten bitteren Erfahrungen ist bereits
während des Waffenstillstands kräftig in Angriff genommen worden. Es war natürlich unmöglich,
sie bis zum Wiederbeginn der Feindseligkeiten (3. Februar 1913) soweit zu fördern, dass die ersten
entscheidenden Resultate des Krieges noch geändert werden konnten. Aber die Rückeroberung
von Adrianopel ist nicht zuletzt als Folge der Kriegsbereitschait des reorganisierten osmanischen
Heeres zu betrachten.
In erster Linie muss der grosse Erfolg allerdings als Resultat der klugen allgemeinen Politik
des am 23. Januar 1913 zur Macht zurückgekehrten jungtürkischen Regimes, dessen Verdienst
übrigens auch die Aufstellung einer schlagfertigen Armee war, bezeichnet werden. Man kann
den Jungtürken die Anerkennung nicht versagen, dass sie vom ersten Tage ıhrer Rückkehr zur
Staatsleitung an mit Ernst daran gegangen sind, frühere Fehler wieder gutzumachen und eine
feste Grundlage für das schwierige Werk der Erneuerung des Osmanischen Reiches zu schaffen.
Als wichtigsten Punkt ihres Programms, dessen Ausführung zuerst dem Marschall Mahmud
Schewket Pascha und nach dessen Ermordung (11. Junı 1913) dem Prinzen Said Halım Pascha
als Grosswesir anvertraut wurde, betrachteten die Jungtürken die Lösung der zwischen den Gross-
mächten und der Türkei schwebenden Fragen. Diese neue Aera der türkischen Auslandpolitik
wurde durch die Entsendung des früheren Grosswesirs Hakkı Pascha nach London (Februar 1915)
eingeleitet. Ihr folgte Anfang März die Entsendung des früheren Finanzministers Dschawıd Be]
nach Berlin und Paris. Die Verhandlungen mit England waren im Mai soweit abgeschlossen, dass
Sir Edward Grey am 29. Mai präzise Mitteilungen über die türkisch-englischen Vereinbarungen
machen konnte. Die Grundlage für die Verhandlungen mit Frankreich bildete eine Liste von
Forderungen verschiedener Art, die der französische Botschafter Bompard am 24. Februar der
Pforte überreicht hatte. Die Verhandlungen führten zu bestimmten Abmachungen, dıe ın der
ersten Septemberhälfte von Dschawid Bej und dem französıschen Minister der auswärtigen An-
gelegenheiten, Pichon, in Paris paraphiert wurden. Anfang Oktober begannen ın Konstantinopel
entsprechende Verhandlungen mit Russland, an die sich die Berliner Verhandlungen Dschawıd
Bejs mit Deutschland anschlossen. Was die Pforte, ausser speziellen Konzessionen politischer,
finanzieller oder allgemein wirtschaftlicher Art, von den Grossmächten erwartete, hatte sıe bereits