Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

  
390 ö Hans Vebersberger, Balkanstaaten und Balkanbund. 
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Sultan Abdul Hamid blieb nıchts anderes übrig, als am Tage danach den Verschwörern nachzugeben. 
Die Türkei rückte damit in die Reihe der konstitutionellen Staaten ein. Das jungtürkische Komitee 
hatte dıe Einheit des Reiches und straffe Zentralisation auf seine Fahne geschrieben. Es war von 
allem Anfange an gegen jede Sonderstellung und Autonomie der Nationalitäten. Alle Nationen sollen 
vor dem Gesetze gleichberechtigt und Staatsbürger des einheitlichen osmanischen Reiches, Otto- 
manen, sein. Im ersten Rausche der Begeisterung einigte diese Devise auch alle Nationen, Griechen, 
Serben, Bulgaren und Türken ın gemeinsamer Abscheu gegen die Herrschaftsmaxime Abdul 
Hamids. Aber in dieser allgemeinen Begeisterung wie ın dieser zentralisierten Tendenz lag auch 
der erste Keim auswärtiger Konflikte. Die Jungstürken überschätzten die durch den Umsturz 
gewonnene Lebensenergie des osmanischen Staatswesens und suchten auch längst Verlorenes 
wiederzugewinnen. Dies betraf vor allem das schärfere Betonen des Vasallıtätsverhältnisses Bul- 
gariens zur Pforte und die Absıcht, auch Vertreter Bosniens und Herzegowinas in das Reichs- 
parlament zu berufen. Die Antwort darauf war die Unabhängigkeitserklärung Bulgarıens und die 
Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn im Herbste 1908. Das war der 
erste Blütenreif, der auf die neugewonnene Freiheit fiel. Zwar hatte das entschlossene Auftreten 
der Jungtürken zur Folge, dass die Mächte Griechenland an der Annexion Kretas hinderten, Aber 
dıe auswärtige Politik liess das neue Regime nicht zur Ruhe kommen. Der scharfe Gegensatz 
zwischen den beiden Mächtegruppen Tripleentente’und Dreibund, der unsere Zeit kennzeichnet, 
übte seine Wirkung naturgemäss auch am Bosporus. Hatte den Honigmond der jungen Freiheit 
besondere Fürsorge der Tripleentente begleitet, so verwandelte sich diese Freundschaft bald in 
Gegnerschait, als die Pforte ihre Interessen an die beiden Zentralmächte wies. Aber auch hier gab 
es bald eine Enttäuschung, an der freilich nicht der Dreibund als solcher und schon gar nicht 
Deutschland und Österreich-Ungarn, sondern frühere Vereinbarungen zwischen Italien, Frank- 
reich und England die Ursache trugen. Es war dies der mitten im Frieden erfolgende Versuch 
Italiens, sich Tripolis zu bemächtigen, da die Pforte nicht gesonnen war, einer.friedlichen Durch- 
dringung dieses Gebietes durch Italien ruhig zuzusehen. Da Tripolis von türkischen Truppen so 
gut wie entblösst war, schien dem Unternehmen von vornherein sicherer und rascher Erfolg zu 
wınken, Italien hatte aber nicht mit der Anhänglichkeit der arabıschen Stämme an den Khalifen 
und die Tatkraft eines Enver-Bey gerechnet, Mit unzureichenden Mitteln, aber unter geschickter 
Ausnützung der Terrainschwierigkeiten hat Enver-Bey durch ein volles Jahr den an Zahl und Aus- 
rüstung weit überlegenen italienischen Truppen viel zu schaffen gegeben. Die Pforte war insofern 
in einer günstigen Lage, da die Küsten der europäischen Türkei im Jonischen und Ägäischen Meer 
von Italien vereinbarungsgemäss (mit Österreich-Ungarn) nicht in den Bereich seiner "kriegerischen 
Operationen gezogen werden durften. Die Besetzung der Inseln aber tat der Pforte wenig Abbruch, 
sowie auch die Blockierung der Dardanellen mehr dem russischen Getreideexporte aus Südrussland 
als ihr schadete, da durch ihre Gegenmassregeln auch die Durchfahrt der Handelsschiffe unmöglich 
wurde. Ohne diese Beschränkung des Operationsfeldes wäre dıe orientalische Frage in ungeahnter 
Schärfe und Ausdehnung noch im Herbst 1911 aufgerollt worden. 
Denn rosig war die Lage der Jungtürken seit den Honigmonden ıhres Regimes niemals. 
Der Versuch einer Gegenrevolution, Ende März 1909, war die erste ernste Probe, die allerdings 
Abdul-Hamid Thron und Freiheit gekostet hat. Damals hatten die Jungtürken unter Mahmud 
Schefkets Führung militärisch ihre Aufgabe ausgezeichnet gelöst. Der Organisation von Heer und 
Marine galt auch ihre Hauptarbeit. Was in den langen Jahren des alten Regimes versäumt worden 
war, solite nun rasch nachgeholt werden. Es hatte auch den Anschein, dass namentlich das Heer 
wirklich auf achtunggebietende und den zunächst in Betracht kommenden Gegner vollständig 
ebenbürtige Höhe gebracht werde. Die Schwierigkeiten, denen Italien in Tripolis begegnete und 
dıe ja doch vor allem ım Terrain begründet waren, haben diesen Glauben nicht nur in jungtürkischen 
Kreisen, sondern auch ım übrigen Europa mit Ausnahme der Balkanstaaten nur gefestigt. Die 
Jungtürken versuchten auch ın der inneren Politik eine neue Richtung, die die Versäumnisse des 
alten Regimes gutmachen sollte. Als starre Zentralisten suchten sie der gesamten europäischen 
Türkei einen einheitlichen ottomanischen Stempel aufzudrücken. Den christlichen Konfessionen, 
die seit alters eine gewisse selbständige Stellung besassen und in eigenen Korporationen, sog. Millets, 
 
	        
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