354 Otto Hoetzsch, Die auswärtige Politik der Vereinigten Staaten von Amerika.
waltigen Bodenschätze zur Entwicklung einer grossen Industrie ausgebeutet worden. Von 1865 bıs
1893 geht dieser immer schnellere Prozess der Industrialisierung, der nach einem bekannten Schlag-
worte ungeahnte Möglichkeiten zu eröffnen schien. Gefördert durch eine Schutzzollpolitik, die
mit dem Mac Kinley-Tarif 1891 und dem Dingley-Tarif 1897 sich endgültig siegreich durchsetzte,
konnte das Industrieleben auf die Höhe kommen, dass es nicht nur die eigenen Bedürfnisse der Be-
völkerung befriedigte, sondern über die Grenzen hiausdrängte, seit 1891 mehr an das Ausland ver-
kaufend als von ihm kaufend. Und ebenso waren die Probleme des Verfassungslebens bıs zum
Ende, so schien es wenigstens, gelöst. Mit dem Siege der Nordstaaten im Sezessionskriege hatten
die unionistischen Tendenzen gesiegt. Zugleich mit der Beseitigung der Negersklaverei war auch
der alte Kampf zwischen Einzelstaat und Bundesstaat, der drei Viertel-Jahrhunderte lang die
Union erschüttert hatte, ausgekämpft worden; keiner der 46 Staaten, die heute ihre Sterne auf
dem Unionsbanner sehen, denkt mehr an ein Sonderdasein, sondern fühlt sıch bei aller grossen
inneren Selbständigkeit seines Verfassungs- und Verwaltungslebens unbedingt als ein Glied des
grossen garzen „Empire“, anwelchen Ausdruck für den Gesamtstaat man sich immer mehr gewöhnte.
So stand in strotzender wirtschaftlicher Kraft und in konsolidierten politischen Verhältnissen
die Union da, als Mitte der 90er Jahre die grossen weltpolitischen Probleme auf dem ganzen Erden-
ball ins Rollen kamen. Die Vereinigten Staaten waren, wie Europa bald sehen musste, nicht gewillt,
dabei abseits zu stehen, drängte sie doch die ungeheuer entwickelte Industrie ihres Ostens mit Ge-
walt dazu, an der Erschliessung der neuen Absatzgebiete für die Industrie auf der Erde mit Energie,
gegebenenfalls mit militärischer Gewalt teilzunehmen. Indem aber Präsident Mac Kinley und
Roosevelt — als Mandatare der sie tragenden kapitalistisch-republikanischen Kreise — ıhren Staat
an dieser weltpolitischen Entwicklung tatkräftig teilnehmen liessen, veränderte sich das, was man
bisher die auswärtige Politik der Union und ihre politischen Ziele nannte, von Grund auf.
II. ‚,Amerıka den Amerikanern.“
Als George Washington das Befreiungswerk durchgeführt hatte, hat er seinem Lande ın
seiner bekannten ‚„Lebewohladresse“ vom 19. Dezember 1796 seın politisches Testament dahın-
gehend hinterlassen, dass Amerika sich in die Angelegenheiten Europas nicht einmischen sollte:
‚„Seid eine Nation, seid Amerikaner und seid treu Euch selbst.‘‘ Und diesen Grundsatz, der für
die Union eine auswärtige Politik eigentlich ausschloss, hatte dann dıe bekannte Botschaft des
Präsidenten James Monroe vom 2. Dezember 1823 als ein politisches Axıom ausgesprochen. Indem
sie „Amerika den Amerikanern“ reservierte und so sich gegen jede Einmischung europäischer
Staaten in die amerikanische Politik aussprach, proklamierte sie zugleich ım Sinne Washingtons
den Grundsatz, sich nicht in die Angelegenheiten Europas einzumischen. Das politische System
der Vereinigten Staaten von heute steht ersichtlich ım striktesten Gegensatz zu dıeser Lehre und
nimmt doch noch in Anspruch, dass es ihr vollkommen treu geblieben sei. Man hat zwar bis nach
dem Sezessionskriege keine besondere auswärtige Politik getrieben, und der Grundsatz, dass Ame-
rıka nicht mehr als Gebiet der Kolonialpolitik europäischer Mächte ın Frage komme, hat kein
politisches Interesse mehr, seitdem der Streit mit England um dıe Nordwestgrenze und um Oregon
entschieden ist, seitdem Alaska von Russland verkauft wurde und seitdem die früheren spanischen
Kolonien selbständig geworden oder an die Union gekommen sınd. Aber schon Monroe hatte ın
seiner Botschaft von Kontinen ten gesprochen unddie Interessengemeinschaft des angelsächsischen
und des romanischen Amerika gegenüber Europa festgelegt. Der darın liegende politische Gedanke
des sogenannten Pan- Amerikanismus ist neben ıhm schon damals von Henry Ulay verfochten worden,
die Zusammenfassung ganz Amerikas, vom Lincolnmeer bis zum Cap Hoorn, vor allem wirtschafts-
politisch gegenüber Europa und natürlich unter Führung des Yankeeelementes. Bis ın die letzte
Periode herein hat freilich diese Idee, trotz begeisterter Verfechter, und einer ganzen Reihe soge-
nannter pan-amerikanischer Kongresse, keine reale Bedeutung gewonnen. Dagegen ist es doch
gelungen, die Monroedoktrin als Grundsatz, dass die europäischen Mächte in amerikanischen Ange-
legenheiten — und Amerika wurde dabei im eben genannten weitesten Sinne gefasst — nıcht Inter-
venieren dürften, durchzusetzen, so wenig völkerrechtliche oder staatsrechtliche Erheblichkeit
ihr eigen war, — von der Texas- und Mexikofrage (1838) an bis zu der venezolanischen (1902).