Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

379 Albrecht Wirth, Das Erwachen der asiatischen Völker. 
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kämpfe Mazedoniens lebten wieder auf, nach Albanien wurden vier Feldzügc geleitet; Zehntauscer.de 
von Redifs mussten in den arabischen Provinzen kämpfen, in Yemen, el Haza, Assyr, und Hadra- 
maut; der Libanon wurde unter schrecklichem Gemetzel aufs neue unterworfen ; ın Adana kam es zu 
einem Christenmassakre, gegen den Kurdenscheich Ibrahim wurden zwölf Regimenter mobil ge- 
macht; an der armenisch-persischen Grenze brachen die Unruhen nicht ab; dazu eine blutige Reak- 
tion im April 1909; ausserdem in vier Jahren sechs Grosswesire und acht Scheichs ül Islam! Nun 
brach noch der Krieg mit Italien aus. Der war zwar insofern der Türkei zum Heile, als ım Anfang die 
inneren Zwistigkeiten zum grössten Teile verstummten, und das Reich zum erstenmale seit langer 
Zeit ein ungeflähres Bıld der Eintracht bot; auf der anderen Seite war der Krieg eine abermalige 
Schwächung der Türkei. Nun brach noch der Balkankrieg aus. Die hohe Pforte konnte nur Thrazien 
behaupten. Die ringsum lauernden Feinde wetzen neuerdings die Zähne, lüstern nach neuem Ge- 
bietserwerb, nach neuer Beute. Auch wird jetzt schon vielfach geargwöhnt, dass nach dem Zusam- 
menbruch der europäischen Türkei dıe Araber in ihrem geschwellten Selbstbewusstsein anspruchs- 
voller den Türken gegenübertreten werden. 
Überhaupt birgt die zwischen Arabern und Türken bestehende Kluft noch viel Gefahren in 
sich. Die Diplomatie Abdul Hamids verstand es, die nationalen Gegensätze zu verschleiern, da- 
gegen sind jetzt, unter dem konstitutionellen Regime, die Gegensätze wieder frisch aufgelebt. Ähn- 
lich war es schon 1848. Bei dem allgemeinen Erwachen der Völker forderten nicht nur die Deutschen 
dıe Freiheit, sondern auch die Polen, Tschechen und Ungarn rührten sich, so dass für alle nationa- 
lıstischen Bestrebungen Südosteuropas, wie der ıirredentistischen Italiener, die Erhebung von 1848 
den Ausgangspunkt liefert. Im osmanischen Reiche haben die Jungtürken noch ganz besonders 
dıe Erregung geschürt; denn ın ıhrem Chauvinismus wollten sıe alle anderen Volkheiten, als da 
wären Albaner, Kurden, Bulgaren, Griechen, Armenier und Araber vertürken. Dieser Versuch 
ıst der Hauptanlass zu den Bürgerkriegen gewesen, aber der Sieg des Komitees für Einheit und 
Freiheit war nicht ein Sieg der osmanischen Macht. Genug, wenn wır die Gesamtlage überblicken, 
so müssen wir auch hier sagen, dass bis jetzt die Revolution für die Türkei lediglich der Anfang 
schwerer Kämpfe und unabsehbarer Wirren geworden ist. Wirtschaftlich ist die Lage ohne Zweilel 
besser geworden, da eine Revolution immer gewisse, vorher gebundene Kräfte entiesselt; politisch 
ist dagegen der Ausblick recht trübe. 
Über die chinesische Revolution ein Urteil zu fällen, ist die Frist noch.etwas kurz. Sind 
doch noch nicht zweiJahre seit den Anfängen derRevolution verflossen. Immerbin ist das eine schon 
deutlich, dass auch in Ostasien eine Abbröckelung begonnen hat. Ein grosser Teil der Mongolei 
erklärte sich selbständig, und die Tibetaner sind drauf und dran, die chinesischen Soldaten aus 
Lhassa zu vertreiben. Bedrohlich mischen sich die Nachbarn, Russen und Japaner, ein. Alles wırd 
von der Persönlichkeit des Führers abhängen, ob das schwankende Staatsschiff sicher aus der 
stürmischen Brandung in ruhigere Gewässer bugsiert werden kann. 
Das letzte Volk, das revolutionäre Neigungen zeigt, ist das siamesische. Auch es redet von 
einer Republik. Man kann schon jetzt mit Sicherheit behaupten, dass dieVerwirklichungeiner solchen 
Absicht für das kleine Siam verderblich sein würde. Engländer und Franzosen würden den Staat 
zwischen sich aufteilen. 
Wir sprachen vom Erwachen der Asiaten, und trotzdem melden wir nichts als „Zurück- 
weichen“ und Untergang asiatischer Staaten? Gewiss, aber der Anstoss Europas weckt eben 
schlummernde Kräfte. 
Das Erwachen des Orients dauert schon zwei Menschenalter. Greifbaren Erfolg hat dıe Wiıeder- 
geburt des Ostens bisher nur in Japan, und — wenn auch nicht militärisch-politisch — ın dem 
durchaus modernisierten, und recht gut verwalteten Siam gehabt. Die übrigen Länder des Orients 
befinden sich in den Wehen des Überganges. Noch immer dringt der Westen vor. Er verschluckt 
Marokko, Tripolis, Mazedonien, Stücke Arabiens, Persien, Belutchistan und die Mongolei. Die 
Widerstandskraft Chinas und der Türkei ist erheblich geschwächt, und eine weitere Abbröckelung 
beider Reiche scheint unvermeidlich. Trotzdem ist es gewiss, dass noch vor dem Ablauf eines 
Menschenalters der Tag kommt, da der gesamte Orient sich siegreich gegen den Occident erhebt. 
  
  
  
  
  
  
  
  
  
 
	        
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