Fritz Stier-Somlo, Die deutsche Arbeiterversicherung.
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Rechtes in die Wege geleitet, wie sie ihres gleichen ın keinem Kulturstaate der Welt findet. Zwar
sind die Hoffnungen, welche manche Kreise auf dıe Vereinheitlichung aller Versicherungszweige
gesetzt ha!ten, nicht erfüllt worden. Doch kann dies nicht als ein Schaden angesehen werden.
Jene Reformer übersahen, dass es sich nicht bloss um eine zeitliche Aufeinanderfolge der bisherigen
Arbeiterversicherungsgesetze handelt, welche eine innerlich zusammenhängende Gesamt-Gesetz-
gebung gehindert hätten; vielmehr lag das Hindernis an der inneren Verschiedenartigkeit der
bisherigen Kranken-, Unfall-, Alters- und Invalidenversicherung. Bei der ersteren handelte es sich
um relativ kurze, aber nicht unerhebliche Unterstützungsbeträge, bei der Unfall- und Invalidenver-
sicherung dagegen um solche Leistungen, die viele Jahre, möglicherweise auch das ganze Leben
hindurch zu zahlen sind, und deren kapitalisierter Wert ganz ausserordentlich hoch ist. Wenn
demnach bei der Krankenversicherung nur vorübergehende Unterstützungsfälle in Betracht
kommen sollen, so bei der Unfall- und Invalidenversicherung grundsätzlich längere Zeit dauernde.
Auch die Entstehungsgeschichte der verschiedenen Zweige weist auf innere Verschiedenheiten hin.
Die Unfallversicherung ist aus der Notwendigkeit des genossenschaftlichen Zusammenschlusses der
Unternehmer hervorgegangen, die ihrerseits haftpflichtig waren und ın ıhrer Verbindung das Risiko
auf einen grösseren Kreis abwälzten. Die Berufsgenossenschait ıst also dıe Vereinigung der sich
rückversichernden Unternehmer. Dagegen sind die Mitglieder der Kassen ausschliesslich die
Arbeiter; der Unternehmer ist nur beitragspflichtig und hat einen gewissen Anteil an der Ver-
waltung. Bei der Alters- und Invalidenversicherung sınd wıeder ganz anders geartete Eintstehungs-
gründe vorhanden, die von denen der Kranken- und Unfallversicherung abweichen. Ein weiterer
innerer Scheidungsgrund zwischen den Versicherungszweigen besteht darın, dass dıe Vermögens-
massen gänzlich voneinander abweichen; während die Krankenkassen kein nennenswertes Ver-
mögen aufzuweisen haben, sind die Berufsgenossenschaften und die Invalidenversicherungsanstalten
sehr kapitalkräftig und verwenden ihre grossen Bestände z. T. auf Unterstützung von Wohlfahrts-
einrichtungen.
Wenn hiernach sowohl die geschichtliche Aufeinanderfolge der Gesetze, als auch die Innere
Verschiedenheit der Versicherungszweige einer vollkommenen Verschmelzung entgegenstanden, so hat
dieR.V.O.wenigstenseineAnnäherung aufdem Gebiete versucht, das als das formale bezeichnet
werden kann. In organisatorischer Hinsicht fehlte es nämlıch an einer unteren Verwaltungsstelle,
die gemeinsam alle Angelegenheiten des Kranken-, Unfall- und Invalidenversicherungsrechtes be-
arbeitet hätte. Nur auf dem Gebiete der Invalidenversicherung waren sog. Rentenstellen geschaffen
worden, während die Krankenkassen auch unter dem Zustande litten, dass die Entscheidungen
in Krankenversicherungssachen je nach Lage der Dinge an zahlreiche Instanzen gingen. Durch die
Einführung des Versicherungsamtes durch die Reichsversicherungsordnung (R.V.O.) hat sich dies
vollkommen geändert. Zwar ist dieses Amt kein selbständiges ım eigentlichen Sinne, sondern
angegliedert an die untere Verwaltungsbehörde (auf dem Lande an das Landratsamt, ın den Städten
an das Bürgermeisteramt), aber es ist doch der soziale Unterbau der ganzen Reichsversicherung
geworden. Das Versicherungsamt ist auch Aufsichtsbehörde erster Instanz in Krankenver-
sicherungsachen; es gibt Rechtsauskunft und bietet den Berufsgenossenschaften und Versicherungs-
anstalten eine ganze Reihe von Hilfsleistungen, kurz, es ıst dıe örtliche Grundlage des ganzen Ge-
bäudes. Auf ihr hebt sich dann empor das Oberversicherungsamt, das sein Vorbild ın den bisherigen
Schiedsgerichten für Arbeiterversicherung findet, und darüber steht krönend das Reıchs-
versicherungsamt, in dem, wie bisher, eine verwaltende und eine richterliche Tätigkeit neben-
einander hergehen.
Neben der organisatorischen Reform ist auch eine materielle in einem nicht zu unterschätzende
Umfange vor sich gegangen. Zum erstenmal ist in der ganzen Kulturwelt der Versuch einer Hinter-
bliebenenversicherung gemacht worden. Witwen und Waisen werden versichert, nicht bloss mit
Almosen versehen, wie bisher. Zwar kann man das, was diese Versicherung gewährleistet hat, nıcht
für ausreichend erachten, soweit essich um die Höhe der Leistungen handelt. Aber d :rartige Gesetzes-
werke tragen den Keim der Entwicklung in sich, und es ist kein Zweifel, dass über kurz oder lang
auch hier die Renten und sonstigen Gewährungen weit über das Mass der Armenpflege hinausgehen
werden. Auch die Invalidenversicherung ist nicht unverändert geblieben. Bemerkenswert ıst ıns-