3841 Schachner - Riess, Japans wirtschaftliche und soziale Probleme.
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Abgesehen von einigen männlichen Berufen, wie besonders dem Bauhandwerk, wo alte Gilden
die Löhne regulierten, oder der Eisenindustrie, wo moderne Gewerkschaften eingriffen, ist die un-
organisierte Arbeiterschaft, am meisten Frauen und Kinder, dem Machtgebot des Unternehmers aus-
geliefert. Es finden sich Löhne für Mädchen unter 14 Jahren von 8—-11 sen, von Knaben unter
14 Jahren 12—20 sen, für Frauen von 17—22 sen, für Männer.von 29—50 sen in einer grossen Anzahl
von gewerblichen Tätigkeiten.
Eine vegetarische Ernährung, die in der Hausindustrie üblich, von zwei Gelehrten Dr. Kellner
und Mori als Unterernährung bezeichnet wurde, ist es noch mehr mit dem Eintritt der Arbeiter in die
Fabrik geworden. Die Löhne vıeler Männer reichen nıcht zur vollkräftigen Ernährung der „dritten
Speisengruppe‘“, die der Frauen und Kinder meist nicht zur kümmerlichsten vegetarischen Kost;
die Fleischnahrung ist aber bei der sıtzenden Tätigkeit in den Fabriken geradezu eine Not-
wendigkeit.
Diese Löhne können den Körper auf die Dauer nıcht leistungsfähig erhalten, sondern müssen
zur Kraftlosigkeit, hoher Krankheitsempfindlichkeit, Geburt schwacher Kinder und frühem Tod
führen. In der Verzweiflung an ıhrer Lage kam es dann wohl besonders in Bergwerken zu Streiks,
wo bei die Sabotage nicht selten war — am schlimmsten warder Streikaufstand in den Kupferwerken
von Ashio im Jahre 1907; aber die Arbeiter, die sich ins Unrecht setzten, wurden mit Waffengewalt
niedergezwungen und hatten oft noch schlimmer zu dulden als zuvor.
Nachdem es entschieden war, dass die Kriegsauflagen, namentlich auch die vom niederen
Volke schwer empfundenen auf Gewebe, Shoyu (die in jedem Haushalt unentbehrliche Sauce aus
Soyabohnen) und Salz verewigt werden, setzte auch die sozialistische Agitation gegen die Ver-
elendung der Massen wieder ein. Der Unterrichtsminister hielt es am 9. Juni 1906 geboten, die
Jugend vor dem schädlichen Einfluss der neu aufgekommenen Lektüre über wirtschaftliche Fragen
zu warnen und die Überwachung der Schülerlektüre anzuordnen. Sein Rundschreiben erläutert
diese neue Erscheinung: ‚Seit einiger Zeit mehren sıch die Veröffentlichungen, welche gefährliche
Theorien, pessimistische Ansichten darlegen und verabscheuungswürdige Gefühle beschreiben ;
auch sehen wir, wıe überall extrem-sozialıstische Theorien verbreitet werden.‘‘ Namentlich seıt dem
Rückgang der Konjunktur in der zweiten Hälfte des Jahres 1907 wurde die Kampfstimmung unter
den Arbeitermassen immer allgemeiner. Im Februar 1908 bildete sich ein neuer ‚‚sozialistischer
Verein‘, der durch wahrheitsgemässe Darstellungen der traurigen Lage der ungeschulten Arbeiter
Propaganda machte. Die Gefahr wurde, wie viele, oft leichtsinnige Streiks bewiesen, dadurch nicht
vermindert, dass die Regierung die Bildung einer sozialdemokratischen Partei (Shakwai Heiminto)
mit dem Programm, ‚‚die Prinzipien des Sozialismus innerhalb der durch die Verfassung gezogenen
Grenzen zu vertreten und den arbeitenden Klassen zu ihren angeborenen Rechten zu verhelfen“
mit Gewalt vereitelte. Die Unterdrückung der Agitation hatte nur die Folge, dass die fanatischen
Idealisten den Grundlagen des Staatswesens Totfeindschaft schwuren und dass im Juli 1910 sogar eine
anarchistische Verschwörung gegen das Leben des Kaisers beinahe Erfolg gehabt hätte. Unter den
26 Verschworenen waren drei buddhistische Priester und unter den 12 am 24. Dezember 1910 Hin-
gerichteten befand sich auch der seit Jahren über den Raubbau an der japanischen Volkskrait
Material sammelnde Arzt Kotoku und seine Frau. Solch ein Vorkommnis ist, wie Rathgen mit
Recht hervorhebt, ‚für den Kenner japanıscher religiös-politischer Vorstellungen geradezu er-
schütternd‘“.
Brachte so die überhastete Industrialisierung Japans die Arbeiterfrage in den Vordergrund
der inneren Politik, so verband sich mit einem anderen Mittel zur Hebung des Volkswohlstandes
und Aufrechterhaltung der Zahlungsbilanz der neuen Grossmacht die Gefahr einer schweren aus-
wärtigen Verwicklung. In den Aufstellungen des Finanzministers Sakatanı spielten dıe (Geld-
sendungen der Auswanderer eine bedeutende Rolle. Dementsprechend wurde es den Auswanderungs-
unternehmern (meist Gesellschaften) erleichtert, Menschenmaterial nach allen möglichen Ländern,
besonders nach Nord- und Südamerika zu schaffen. Da durch ein Gesetz 1896 japanısche Berg-,
Fabrik-, Landwiırtschafts- und Hausarbeiter zum Verlassen des Inselreichs einer behördlichen
Erlaubnis bedürfen, so lässt sich die Zahl der ins Ausland gegangenen Japaner aus den Pässen, die
von der Regierung ausgestellt sind, ziemlich genau berechnen. Sie erreichte ihr Maximum ı. J. 1906,