111. Abschnitt.
Kulturfortschritte in China.
Von
Dr. phil. et Lic. theol. Paul Rohrbach,
Dozent für Kolonialwissenschaft an der Handels-Hochschule Berlın.
Neueste Literatur:
Prof. Dr. OÖ. Franke, OÖstasiatische Neubildungen, Beiträge zum Verständnis der politischen und
kulturellen Entwicklungsvorgänge im fernen Osten. Hamburg 1911. Dr. R. Wilhelm, Kung Fu tse’s
Gespräche (Lun Yü) Jena 1910. Ku Hung Ming, Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen.
Kritische Aufsätze Jena 1910. Deutsche Kulturaufgaben in China, herausgegeben von Lic. Dr. Paul
Rohrbach, Berlin-Schöneberg 1910. Derselbe: Deutsch-Chinesische Studien, Berlin 1909.
Die gegenwärtige chinesische Reformbewegung, die schon ım letzten Drittel des neunzehnten
Jahrhunderts langsam einsetzte und dann durch das glänzende Beispiel des Sıeges der Japaner
über die Russen in ein rapides Tempo kam, darf nıcht oder doch nicht vorwiegend unter dem for-
mellen Gesichtspunkt des ‚„Kulturfortschrittes’” betrachtet werden. Wenn ın China von Kultur
die Rede ist, 50 kann darunter nur die alte Kultur des chinesischen Volks verstanden werden, die sich
auf einer Entwicklung von rund vier Jahrtausenden aufbaut und ın ıhrem heutigen ıideellen
Gehalt durch den Konfuzianısmus ın ähnlichem Sınne beeinflusst ıst, wie unsere abendländische
Gesamtkultur durch das Christentum. Der Konfuzianısmus ist freilich nıcht Religion, sondern
eine Verbindung von Personal-Ethik, Staats- und Sozial-Philosophie, unter bewusster Ablehnung
der transszendentalen Probleme. Er hat aber, ım Unterschiede z. B. von dem kulturell indifferenten
Buddhismus, in demselben Grade kulturformend gewirkt und Rückwirkungen durch die vor-
handenen Kulturfaktoren empfangen, wie die christliche Religion. In der Feststeliung der ethischen
Grundlagen für die menschliche Kultur gelangt das konfuzianısche System zu ganz ähnlichen
Prinzipien, wie die vom Christentum her bedingte Kantische Philosophie. Hier wıe dort wird die
Autonomie des eigenen sittlichen Urteils mit aller Schärfe gefordert, aber das Eigentümliche des
chinesischen Wesens besteht dabei ın der Begründung der Moralaufdas Prınzıp der Pıietät:
der Kinder gegen die Eltern und der Untertanen gegen den Staat. Die Staatsautorität wırd dabei
ausdrücklich als die erweiterte Familienautorität definiert. Das konfuzianısche Kulturideal ist der
‚„Gündse”, was sıch vielleicht am ehesten mit der ‚‚Edle’” übersetzen lässt: der vollkommen sich
selbst beherrschende, all sein Tun und Lassen auf das Gemeinwohl hın richtende, in jeder Einzel-
heit seines Lebens ehrfürchtig sıch als den Schuldner seiner Vorfahren fühlende Mensch, der den
Idealen der geschichtlichen Vergangenheit nachstrebt, und dem das Leben ın Form und Sitte zur
zweiten Natur geworden ıst. Von dieser Denkweise ıst die altchinesische Kultur tief durchtränkt.
Bis in die Zeit der Ming-Dynastie, die im 13. Jahrhundert nach Christus aufkam, kann in keiner
Weise von Erstarrung des chinesischen Kulturlebens gesprochen werden. Erst während der Mingzeit
stirbt die bis dahin ım Fluss befindliche Entwicklung langsam ab. Sıe erlebt noch einmal eine Art
von Renaissance unter den grossen Mandschu-Kaisern von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18.
Jahrhunderts, aber diese Nachblüte stammt nicht mehr aus dem Inneren des chinesischen Volkes
selbst, sondern sie entsteht durch die vorübergehende politische Befruchtung, die einzelne geniale
Persönlichkeiten des neuen Geschlechts verursachen. Mit dem 19. Jahrhundert beginnt der voll-
ständige Verfall. Er ist ın seinen Ursachen noch nicht ganz aufgeklärt, wahrscheinlich stark durch
ungünstige volkswirtschaftliche Momente bedingt, und er gewinnt ein rapides Tempo, sobald die
von den Ausländern durch Waffenge walt erzwungenen Beziehungen Chinas zum Westen stärker
werden. Die passive Zahlungsbilanz des Landes, die während des 19. und ebenso während des