Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

  
390 Philipp Zorn, Friedens- und Kriegsbündnisse. 
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mächte gegen das autokratische Russland; der Krieg, der daraus entsprang, war eın Krieg, den die 
liberalen Westmächte zur Erhaltung des zurückgebliebensten europäisch-asiatischen Staats- 
gebildes, der Türkei, gegen Russland führten, das die Befreiungsbewegung der christlichen Nationa- 
lıitäten in der Türkei begünstigte und damit allerdings auch seine eigenen Machtinteressen und 
Staatsnotwendigkeiten — freie Schiffahrt vom Schwarzen zum Mittelländischen Meere — vertrat. 
Die Niederlage Russlands gegenüber dem Kriegsbündnisse von Frankreich, England, Sardinien 
und der Türkei führte zum Pariser Frieden 1856, der für längere Zeit das Frankreich 
Napoleons III. zum mächtigsten Staate Europas machte und Russland vollständig niederwarf. 
Preussen und Österreich nahmen an diesen Vorgängen keinen aktiven Anteil. 
3. Eine abermalige Neugestaltung der europäischen Staatenverhältnisse wurde herbei- 
geführt durch die Einheitskämpfe in Italıen und Deutschland. Der Führer 
Italiens zur Einheit war das norditalische Königreich Sardinien und dessen leitender Staatsmann 
Cavour. Zuerst stand die italienische Einheitsbewegunrg unter dem Schutze Frankreichs; die 
Bewegung musste sich in erster Linie gegen Österreich richten. Der französisch-österreichische 
Krieg von 1859 vereinigte die Lombardei mit Sardinien. Die Freischaren Garibaldis stürzten sodann 
die sämtlichen italienischen Einzelstaaten um und bewirkten deren Vereinigung mit Sardinien, 
das hierdurch schon 1861 zum Königreich Italıen geworden war. Allerdings mit Aus- 
nahme von Rom und Venetien; Rom und Umgebung blieb, nunmehr durch französische Truppen 
gegen Italien geschützt, Kirchenstaat des Papstes und Venetien blieb österreichische Provinz. Das 
Bündnis zwischen Preussen und Italıen brachte dann 1866 Italıen, trotz seiner militärischen Nieder- 
lagen, die Abtretung von Venetien durch Österreich und der deutsch-französische Krieg 1870 
vollendete die Einheit Italiens durch die nach der französischen Katastrophe von Sedan ohne 
Schwertstreich erfolgte Besitzergreifung von Rom (20. Sept. 1870). Damit war die neue Gross- 
macht Italien vollendet. 
  
  
  
4. Inzwischen hatten die deutschen Staatsverhältnisse infolge der Initiative Bismarcks 
eine völlige Neugestaltung durch die Befreiung Schleswig-Holsteins von Dänemark und den grossen 
Entscheidungskampf von 1866 zwischen Preussen und Österreich erfahren. In der Form des 
Bundestaates wurde der gesamtdeutsche Nationalstaat, dr Norddeutsche Bund, her- 
gestellt, dessen Präsidialmacht Preussen war und der mit den süddeutschen Staaten durch feste 
Schutz- und Trutzbündnisse verbunden war. Österreich war aus den deutschen Staatsverhält- 
nissen völlig ausgeschieden. Der deutsch-französische Krieg von 1870,71 führte sodann zur end- 
giltigen Herstellung des gesamtdeutschen Nationalstaates in bundesstaatlicher Form, des Deut- 
schenReiıches (seit 1. Januar 1871). Es war der Staatsweisheit Bismarcks und den Waffen- 
taten des preusischen Heeres gelungen, jede Bündnisbildung gegen Deutschland zu verhindern. 
  
d. Inmitten des grossen Völkerringens zwischen Deutschland und Frankreich hatte Russ- 
land — mit Zustimmung Deutschlands — die für Russland erniedrigenden Bestimmungen des 
Pariser Friedens über das Schwarze Meer für nichtig erklärt; Frankreich lag zu Boden und England 
konnte nur erreichen, dass eine europäische Konferenz ım März 1871 die Erklärung Russlands 
legalisierte. Die Freiheitsbewegung der christlichen Völker auf der Balkan-Halbinsel wurde immer 
stärker und führte schliesslich zum dritten grossen Krieg des 19. Jahrhunderts zwischen Russland 
und der Türkei, der im Frieden von San Stefano am 3. März 1878 seinen Abschluss fand. Der Inhalt 
dieses Friedens war eine ziemlich vollständige Vernichtung des türkischen Staatswesens in Europa. 
Dies erklärte England für unannehmbar. Unter schweren Mühen gelang es Bismarck, eine Revision 
des Friedens von San Stefano durch den Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878 zu erreichen; 
das von Russland erkämpfte Hauptresultat, der neue selbständige Staat Bulgarien, blieb in 
dıesem Vertrage gewahrt, immerhin erfuhr der Friede von San Stefano eine sehr wesentliche Ein- 
schränkung, so dass der türkische Staat in Europa in erheblichem Umfange erhalten blieb. 
  
  
6. Die durch die Berliner Konferenz hervorgerufene Verstimmung Russlands war sodann 
der Ausgangspunkt für eine neue Gestaltung der europäischen Bündnisverhältnisse. Angesichts 
der veränderten Haltung Russlands chloss dasDeutsche Reich ein festes Bündnis
	        
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