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Fritz Stier-Somlo, Die deutsche Arbeiterversicherung.
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Als eine sehr wichtige Neuerung muss bezeichnet werden dıe Zusammenfassung aller das
Verfahren betreffenden Vorschriften in einem besonderen Buche der R.V.O. Die vielfach zerstreuten
Vorschriften sind nunmehr auf eine einheitliche Grundlage gebracht, und es ıst kein Zweifel, dass
sie sich um so eher bewähren werden; je mehr man der Tendenz des Gesetzgebers entgegenkommt,
hier einen gänzlich neuen Prozess in seiner Eigenart zu begreifen und auszubauen. Neben den
Zivil- und Strafprozess trat schon seit geraumer Zeit ein besonderer Verwaltungsprozess; eine
Spezialität des Verwaltungsprozesses ist der in der R. V.O. eingeführte.
Endlich sei in dieser überschauenden Betrachtung nur noch darauf hingewiesen, dass auch
die Beziehungen zwischen den einzelnen Versicherungsarten engere geworden sınd, und dass darauf
Bedacht genommen wurde, die Leistungen dort, wo sie zeitlich sıch aneinander schliessen, auch
sachlich in engere Verbindung zu bringen. So leitet z.B. dıe Krankenhilfe über ın dıe Unterstützung
seitens der Berufsgenossenschaft, wenn es sich um einen Unfallverletzten handelt. Eın weitgehendes
Heilverfahren sichert eine vorbeugende Fürsorge ın all denjenigen Fällen, bei denen eine Unter-
lassung zu starker Belastung der Zukunft ın finanzieller Beziehung führen müsste.
Betrachtet man zunächst ın allgemeinen Umrissen das vorliegende Ergebnis, so wırd man
ohne Übertreibung sagen können, dass ein grosses Gesetzgebungswerk geschaffen worden ist.
Mancher berechtigte Wunsch ist nicht erfüllt worden; manches wırd sıch aber noch ım Laufe der
Zeit trotz der Kodifikation durchringen. Die Gelegenheit zu Besserungen ist ın mehr als einem
Punkte verabsäumt worden, und sozialpolitisch vorgeschrittene Kreise bedauern lebhait die eine
oder die andere Massregel. Aber im ganzen ist das Gesetzeswerk von nıcht zu unterschätzender
Tragweite und wird auch zweifellos für die Weiterbildung des sozialen Rechtes ın anderen
Staaten Gegenstand von Vergleichen, z. T. wohl auch der Nachahmung seın.
Die weiteren Betrachtungen führen uns zunächst auf die
I. Reform der Krankenversicherung
ım besonderen.
1. Die Grundfrage der Versicherungspflicht hat eine juristisch bemerkenswerte Änderung er-
fahren. Zu ihren Merkmalen gehörte erstens eine Reihe von subjektiven Momenten: es
mussten Arbeiterpersonenin Betracht kommen, Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge oder unge-
lernte Arbeiter, aber auch die den Arbeitern in wırtschaftlicher Beziehung nahestehenden Personen,
wie Betriebsbeamte, Werkmeister und Techniker jeglichen Geschlechts; all diese mussten in einem
gesetzlich erlaubten Betriebe freimillig beschäftigt sein; es musste ein Beschäftigungsver-
hältnis vorliegen, dauernd und mit Gehalt oder Lohn verbunden. Betriebsbeamte,
Werkmeister und Techniker unterlagen der Versicherungspilicht nur dann, wenn Ihr jährliches
Arbeitsverdienst 2000 Mk. nicht überstieg. Zu diesen subjektiven Momenten trat noch einobjek-
tives Moment: es musste dıe Beschäftigung In einem versicherungspilichtigen Betriebeerfolgt
sein. Die R.V.O. bringt in dieser letzteren Beziehung eine Anderung. Es werden nach $ 165 für den
Fall der Krankheit Gruppen von Personen versichert ganz ohne Rücksicht auf einen bestimmten
Betrieb. Indem man den Grundsatz des $ 1 K.V.G., der die Versicherungspflicht von der
Zugehörigkeit zu bestimmten Betrieben abhängig macht, verlässt und die Versicherung all-
gemein auf alle Personenkategorien erstreckt, die ım 8165 angegeben sınd, wırd man auch zur
Durchführung dieser Neuerung die Person des Versicherten selbst in starkem Grade zur Mitwirkung
bei den Aufgaben heranziehen müssen, die seine Versicherung mit sich bringt. Es muss freudig
begrüsst werden, dass man den, Arbeiter selbst für mündıg erklärt, dass man den Grundsatz
wenigstens durchbrechen will, dass an sich der Arbeitgeber zur Übernahme und Erfüllung der An-
melde- und Einzahlungspflicht geeigneter ist als der Versicherte. Die R.V.O. will für grosse Gruppen
von Arbeitern, insbesondere für alle unständigen Arbeiter, die Anmeldung durch sie selbst bewirkt
wissen, aber, falls sie ihrer Pflicht nicht genügen, soll dafür gesorgt sein, dass sie gleichwohl von der
Versicherung erfasst werden ($$ 442ff.) Immerhin wird der Beginn der Unterstützungspflicht für dıese
Art der Versicherung geknüpft an die Tatsache der Eintragung in ein Mitgliederverzeichnis, nicht mehr
an dıe des Beginns des Beschäftigungsverhältnisses.