Fritz Stier-Somlo, Die deutsche Arbeiterversicherung.
33
Neben diesen Mindest- oder Regelleistungen gibt es satzungsmässige Mehrleistungen. Die
Satzung kann weiblichen Versicherten, die mindestens sechs Monate der Kasse angehören, wegen
einer durch Schwangerschaft verursachten Arbeitsunfähigkeit als Unterstützung den Betrag des
Krankengeldes bis zur Gesamtdauer von sechs Wochen zubilligen (Schwangerengeld). Sie kann
auch bestimmen, dass die Dauer dieser Schwangerschaftsunterstützung um die Zeit verkürzt wird,
während deren Wochengeld vor der Niederkunft gewährt wırd. Die Satzung kann endlich bestimmen,
dass die erforderlichen Hebammendienste und ärztliche Behandlung der Schwangerschaitsbe-
schwerden drei Wochen lang zu gewähren sınd. Man hat die vıel weitergehende Forderung auf-
gestellt, dass Schwangerschaftsunterstützung zu gewähren sei sechs Wochen vor der Geburt und
Wöchnerinnenunterstützung 6 Wochen nach der Geburt ın voller Höhe des Krankengeldes und
freie Gewährung der Hebammendienste und ärztlicher Hülfe bei Schwangerschaftsbeschwerden in
obligatorischer Weise, nicht nur bei satzungsmässiger Festsetzung. Eine derartige Forderung
musste aber an den finanziellen Verhältnissen der Kassen vorläufig ein Hemmnis finden.
Eine weitere Mehrleistung stellt de Familienhilfe dar. Familienmitglieder, die nicht
versicherungspflichtig sınd, können Krankenpflege, Ehefrauen Wöchnerinnenhülfe erhalten.
Sterbegeld kann zu bis 2/, des Mitgliedersterbegeldes an Ehegatten und bis zu 1, an Kinder gewährt
werden. Vorallemaber: die Krankenhilfe kann, wie auch bisher, ein volles Jahr dauern; das Kranken-
geld kann bis zu % des Grundlohnes betragen, auch an Sonn- und Feiertagen, selbst während der
Karenztage gezahlt werden; das Hausgeld darf erhöht, Genesende können ein Jahr lang
ın einem besonderen Heim untergebracht werden. Auch grössere Heilmittel sind vorgesehen —
doch alles nur, wenn die Satzung es bestimmt.
„Gemeinsame Vorschriften‘‘, die sich auf den Beginn, das Ruhen usw. der Versicherung be-
ziehen, sind in den $$ 206 bıs 224 gruppiert. Es handelt sich hier um eine systematische Zu-
sammenfassung schon bisher geltender Vorschriften des K.V.G., die bisher in diesem allzusehr zer-
streut waren. Neu ıst aber dıe Bestimmung des $ 212, dass, wenn während der Dauer einer
Krankheit das Kassenmitglied zu einer anderen Kasse übertritt, diese die weitere Leistung in dem
für ıhre Mitglieder durch die Satzung bestimmten Umfang zu übernehmen hat. Aufdie Gesamtdauer
der Unterstützung ıst dıe Zeit der bereits genossenen Leistungen anzurechnen. Durch diese Vor-
schrift wırd eine leidige Streitfrage über sogen. schwebende Unterstützungsansprüche ein für
allemal ausgeräumt. Auch Abs. 2 des $ 214 erledigt einen Streitpunkt. Jetzt ist nämlich Sterbegeld
auch dann zu gewähren, wenn der Tod nach Ablauf der drei auf den Austritt aus der Kasse folgenden
arbeitslosen Wochen eintritt, wenn die Krankenhilfe bis zum Tode geleistet worden ist. Endlich ist
auch noch eine Neuregelung des Ruhens des Rechts auf Bezug der Krankenunterstützung hervorzu-
heben ($ 216). Solange der Berechtigte eine Freiheitsstrafe verbüsst oder in einem Arbeitshause oder
in einer Besserungsanstalt untergebracht ist; solange der Berechtigte ohne Zustimmung des Kassen-
vorstandes ım Auslande sich aufhält und diese Vorschrift nicht durch Beschluss des Bundesrats für
bestimmte Grenzgebiete ausser Kraft gesetzt ist; solange der berechtigte Ausländer wegen Ver-
urteilung ın einem Strafverfahren aus dem Reich ausgewiesen ist, ruht das Recht auf Krankenhilfe.
3. Die äussere Verfassung der Krankenversicherung prägt sich darin aus, dass nur vier,
nämlich die Orts-, Land-, Betriebs--und Innungskrankenkassen als Kassen-
formen hervorgehoben werden. Die knappschaftlichen Krankenkassen finden nur
dadurch Erwähnung, dass der $ 225 bestimmt, ihre Mitglieder seien nicht verpflichtet einer der
bezeichneten Krankenkassen als Mitglieder anzugehören. Statt der Hilfskassen erfahren Ersatz-
kassen eine besondere Behandlung ($$ 503 bis 525). Man kann diese Materie nur im Zusammenhang
mit dem Bestreben nach einer Zentralisation des Kassenwesens erörtern. Über die Zersplitterung, die
heute herrscht, kann eine Meinungsverschiedenheit nicht bestehen. Die Durchführung der Kranken-
versicherung auf beruflicher Grundlage hat sich nicht bewährt. Man war davon ausgegangen,
dass dıe verhältnismässige Gleichheit der Krankheitsgefahr und die leichtere Durchführbarkeit der
Delbstverwaltung bei den nahen gegenseitigen Beziehungen zwischen den einzelnen Kassenmitgliedern
und dıe zur Bekämpfung der Simulation unentbehrliche Kontrolle auf jene berufliche Grundlage
hinweisen. Man kann der Begründung zur R.V.O. gerne zugeben, dass die damalige Organisation
an sich wohl berechtigt war, dass erst dieErfahrung der späterenZeit dieÜberspannung des richtigen
Handbuch der Politik. II. Auflage.: Band III. >