Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

  
710 CC. J. Fuchs, Ländliche Wohlfahrtspflege, Arbeiterfrage und Kolonisation. 
  
  
an Arbeitskräften eintritt, und nicht nur kein Wachsen der ländlichen Bevölkerung, gemäss der 
allgemeinen volkswirtschaftlichen Entwicklung, sondern Stillstand und vielfach geradezu Abnahme 
derselben erfolgt. 
Aber auch bei der ländlichen Wohlfahrtspflege handelt es sich ebenso nicht in erster Linie 
um die wirtschaftliche Arbeit dieses Standes, dıe Fürsorge dafür, dass sie ihn ernährt, — oder doch 
jedenfalls nur soweit, als dies Einfluss hat auf dıe Landilucht (wıe z. B. insbesondere die Möglichkeit 
keit eines Nebenerwerbs, die ländliche Hausindustrie). Im übrigen ist diese Fürsorge Sache des 
Staates, der „Agrarpolitik“, und der Selbsthilfe der ländlichen Bevölkerung im Genossen- 
schaftswesen. Beiden kann die Wohlfahrtspflege nur vorarbeiten, die Wege ebnen und 
Verständnis dafür bereiten — namentlich in bezug auf das letztere, wo sie also „Hilfe zur 
Selbsthilfe‘ ist. 
Vielmehr handelt es sich auch hier um die Not, den Mangel an Wohlfahrt, die dieser Stand 
und die ganze ländliche Bevölkerung nicht als Arbeiter, nıcht ın ıhrer Produktion, sondern in ihrer 
sonstigen Existenz, nicht in ıhren Arbeits-, sondern In ıhren Lebensbedingungen, in 
kultureller und menschlicher Beziehung erleidet, und die mehr zur Landflucht beitragen 
als die wirtschaftliche Notlage. Es handelt sich um ıhre Beseitigung dadurch, dass der ländlichen 
Bevölkerung wieder „Wohlfahrt“, d. h. eine in jeder Beziehung den heutigen Verhältnissen ent- 
sprechende, befriedigende Existenz auf dem Land ermöglicht wırd, und dass das Land ihr wieder zur 
‚‚Heimat‘‘ wird, die man nicht ohne Not verlässt, sondern nur dann, wenn sie ıhre Kinder wirklich 
nicht mehr zu ernähren vermag. 
Darum ist die ländliche Wohlfahrtspflege notwendig zugleich auch immer „Heimat- 
pflege‘, und sie bedeutet keineswegs Verstädterung und Industrialisierung des Landes, sondern 
vielmehr die Erhaltung seiner Eigenart ın Sitten und Gebräuchen, Trachten und Bauweise, soweit 
sie der Erhaltung wert sind, und ihre organische Fortbildung gemäss den Bedürfnissen der heutigen 
Zeit. 
  
  
  
  
An dieser Aufgabe sind nun aber nicht nur alle Angehörigen der anderen Stände auf dem 
Lande, sondern auch die ganze städtische Bevölkerung auf das stärkste interessiert. Denn der 
Jungbrunnen, den das Land für dıe Stadt darstellt, kann es nur bleiben, wenn dort Gesundheit 
und Wohlfahrt herrschen. Ist der Brunnen selbst vergiftet, wıe soll er dann die städtische Kultur 
verJüngen ? Es handelt sich hier also um die ganz grossen allerletzten Probleme unserer modernenKul- 
tur:um dieAusgleichung zwischen Stadtund Land, dierichtige Gestaltung ihrer Wechselwirkung 
die gerade gegenüber der jüngsten kapitalistischen Entwicklung unserer städtischen Kultur von 
der allergrössten Bedeutung ıst. 
Die ländliche Wohlfahrtspflege hängt nun aber aufs engste zusammen mit der Agrar- 
verfassung. Wir haben oben (Abschnitt 44) gezeigt, wie ungleichartig heute die Agrarver- 
fassung des Deutschen Reiches ist, und wie diese Unterschiede geschichtlich entstanden sind: es 
treten uns als Ergebnis dieser geschichtlichen Entwicklung heute vier grosse, ziemlich scharf ge- 
trennte Gebiete entgegen — ein Gebiet der vorherrschenden grossen Güter, bewirtschaftet mit 
besitzlosen Landarbeitern, im Nordosten, ein Gebiet der grossen geschlossenen d. h. ungeteilt 
vererbenden Bauerngüter im Nordwesten, ein weiteres ähnliches im Südosten, und endlich 
dazwischen in Mittel- und besonders Südwest-Deutschland vorherrschend kleine, 
freiteilbare Bauerngüter. 
Wir verstehen nun sehr gut, warum die Bewegung für ländliche Wohlfahrtspflege gerade 
in Berlin mit der Begründung der Zeitschrift „Das Land” durch Sohnrey im Jahr 1893 und 
des ‚Ausschusses für Wohlfahrtspflege auf dem Land“ (jetzt ‚‚Deutscher Verein für ländliche Wohl- 
fahrts- und Heimatpflege‘“) als Abteilung der „Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtspflege” (jetzt 
„Zentralstelle für Volkswohlfahrt‘‘) im Jahr 1896 begonnen und anfangs wesentlich ım Nordosten 
Anklang gefunden hat, wenn Sohnrey auch die Anregung gerade aus Baden — der Landwirtschafts- 
pflege der Beamten, der umfassenden Tätigkeit des Frauenvereins und der Bewegung für Erhaltung 
der Trachten —, entnommen hat. Denn im Nordosten ist ja zuerst bei jenen Landarbeitern 
die „Flucht von Lande” ausgebrochen, und daher das Bedürfnis nach einer derartigen Tätigkeit 
am frühesten und stärksten hervorgetreten. Hier ist ihre Hauptaufgabe: Mitwirkung bei der Lösung 
  
 
	        
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