Full text: Handbuch der Politik.Dritter Band. (3)

72 C.J. Fuchs, Ländliche Wohlfahrtspflege, Arbeiterfrage und Kolonisation. 
  
  
  
heit etc., ebenso wie von ihren Freuden und Vergnügungen oft so weit Entfernten ein Ersatz dafür 
geboten wird, damit er nicht deswegen der väterlichen Scholle untreu wird. Es gilt also, ihm dies 
alles zu bringen, was der Bewohner des anderen Gebietes leicht selbst in der Stadt sich holen kann. 
Hier ist ausserdem besonders wichtig das Problem des Arbeitermangels zur Erntezeit und weiter 
das der Fürsorge für die weichenden Geschwister. Damit hängt hier auch zum Teil die Frage der 
ländlichen Hausindustrie zusammen. So haben wır hıer also ein besonders grosses Arbeitsfeld 
für die ländliche Wohlfahrtspflege. Es ist zweifellos ım ganzen grösser und lohnender und vor 
allem eigenartiger als in dem andern Gebiet. 
Da sich nun aber die Landflucht, deren Bekämpfung die ländliche Wohlfahrtspflege bezweckt, 
zuerst und hauptsächlich in den Kreisen der ländlichen Arbeiter entwickelt hat, ist — wie schon 
betont — dieländliche Arbeiterfrage das erste und wichtigste Problem auch für die 
ländliche Wohlfahrtspflege. Sie hat ein doppeltes Gesicht, je nachdem wir sie mit den 
Augen des Arbeitgebers oder des Arbeiters ansehen: für jenen besteht sie im Arbeiter- 
mangel, für diesen in den Mängeln des Arbeitsverhältnisses. Heute erstreckt sie sich so ziemlich 
auf ganz Deutschland, aber ihre Heimat hat sie doch historisch, wie gezeigt, im Gebiet des Nor.d- 
ostens, und hierist sie inihrer doppelten Gestalt vorhanden —dıe erste als eine Folge der zweiten —, 
während sie in den übrigen Gebieten der deutschen Agrarverfassung in der Hauptsache nur die 
erste Form aufweist und auch in dieser Beziehung ım ganzen geringer als dort und im einzelnen 
um so geringer ist, je mehr die durchschnittliche Betriebsgrösse der Landwirtschaft in diesen Ge- 
bieten gegenüber jenen abnimmt. Für die ländliche Wohlfahrtspflege hat also vor allem die 
Landarbeiterfrage des Nordostens Bedeutung. 
Sie besteht, ähnlich wie bei der modernen gewerblichen Arbeiterfrage der Industrie, darin, 
dass mit der Entstehung der Grossbetriebe und der Beseitigung ıhrer unfreien Arbeitsverfassung 
durch die Bauernbefreiung eine grosse Klasse von Arbeitern entstanden ist, die ihr Leben lang 
Arbeiter bleiben müssen und keine Möglichkeit zum sozialen Aufsteigen besitzen. Die Folge war 
die starke Auswanderung und Abwanderung gerade aus diesen Kreisen trotz gestiegener Löhne 
und die Notwendigkeit, sie durch ausländische Wanderarbeiter zu ersetzen, welche die Lebens- 
haltung der einheimischen weiter herabzudrücken drohten und zugleich eine nationale Gefahr für das 
Deutschtum wurden. Was hat nun die ländliche Wohlfahrtspflege dıeser Frage gegenüber zu tun? 
Wenn Wohlfahrtspflege, wie wir sagten, die Fürsorge anderer Klassen, zunächst dıe der Arbeit- 
geber für ihre Arbeiter, bedeutet, so ist diese hier wıe ın der Industrie von grösster Bedeutung und 
zwar eben besonders im Nordosten gegenüber den auf den grossen Gütern beschäftigten Gutstag- 
löhnern, und das erste Gebiet, auf dem sie sich zu betätigen hat, ist auch hier wie ın der Industrie, 
die Wohnungsfrage. Die Wohnungsfrage auf dem Lande unterscheidet sıch von der ın 
der Stadt im wesentlichen dadurch, dass dort nur ihre eine Seite — die Wohnungsmängel — vor- 
handen ist, dagegen die andere, in der Stadt wichtigere, der Wohnungsmangel fehlt. Es handelt 
sich also vor allem hier um die Beseitigung der früher überwiegend schlechten, zum Teil menschen- 
unwürdisen Katen, in welchen die Gutstaglöhner auf den grossen Gütern des Nordostens wohnten, 
durch allmähliche Umgestaltung der alten und den Bau von gesundheitlich, sıttlich und künst- 
lerisch einwandfreien neuen Wohnungen. Dafür ist im Gegensatz zur Industrie die Selbsthilfe der 
Arbeiter hier kaum von Bedeutung, weil sie dazu im allgemeinen nicht fähig sind, dıe Hauptauf- 
gabe obliegt dem Arbeitgeber, aufdessen Grund und Boden die Arbeiter aus Zweckmässig- 
keitsgründen doch am besten wohnen, und diese Arbeitgebertätigkeit unterliegt hier auch nicht den 
gleichen Bedenken wie bei der Industrie, da eine gleiche Freizügigkeit praktisch doch nıcht besteht. 
Seitens fortgeschrittener grosser Arbeitgeber ist auf diesen Gebieten neuerdings auch schon Er- 
hebliches geleistet worden. Daneben kommt dann noch die Errichtung von Arbeiterwohnungen 
durch Behörden, insbesondere durch die Kreise, in Frage, welche sich aber in der Regel mıt 
der noch zu besprechenden Ansässigmachung der Arbeiter auf einem kleinen Gut verbindet. Da- 
gegen ist die Mitwirkung von gemeinnützigen Vereinen zur Förderung des Kleinwohnungswesens 
und von Behörden durch Unterstützung in technischer und namentlich künstlerischer Beziehung 
von grosser Wichtigkeit. Ausserdem handelt es sich hier wohl noch erheblich mehr als beim ındu- 
striellen Arbeiter auch vor allem um Erziehung der Arbeiter selbst zur Schätzung besserer Woh- 
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
  
   
  
  
  
 
	        
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