74 C.J. Fuchs, Ländliche Wohlfahrtspflege, Arbeiterfrage und Kolonisation.
lichen Arbeiterfrage des Nordostens, und zwar in doppelter Weise: einmal indem durch die Auf-
teilung grosser Güter ın bäuerliche Güter von mittlerem Umfang, welche sich im allgemeinen ohne
fremde Arbeitskräfte behelfen können, die Zahl der ersteren, bei denen sie hauptsächlich besteht
und damit zugleich der Arbeitermangel vermindert wird ; dann aber, indem sie selbst zur Bildung von
ganz kleinen Arbeiterrentengütern verwendet wırd, um den Arbeiter durch Existenzbedingungen
auf dem Lande zurückzuhalten, die er ın der Stadt und ım allgemeinen auch in der Industrie nicht
finden kann, und nach denen doch noch heute sein höchstes Sehnen geht, — den Erwerb einer
eigenen Scholle. Erst seit dem Ministerialerlass von 1907 ıst die Bildung auch kleinerer Renten-
güter bis herab zum Mindestmass von 12,5 ar = 1, Morgen, nicht nur für landwirtschaftliche,
sondern auch für industrielle Arbeiter ın Fluss gekommen, und sowohl in den Domänen
wie durch die Kreise ist die Arbeiteransiedelung verschiedentlich, und zwar jetzt mit direkter
Staatsunterstützung für den einzelnen Fall, ın Angriff genommen worden. In dem not-
wendigen grösseren Umfang wird sie aber doch immer nur seitens der Gutsbesitzer selbst
erfolgen können, für welche die Schwierigkeit hauptsächlich darin liegt, dass die Arbeiter, denen sie
einen Teil ıhres Grund und Bodens zum Zweck der Ansiedelung verkaufen, nachher vielleicht
doch nicht bei ihnen arbeiten — eine Schwierigkeit, welche indessen durch Anwendung der ‚‚Ar-
beiterpacht” (namentlich als Übergangsform) und des ‚Wiederkaufsrechtes” überwunden werden
kann. Natürlich kommt sehr vıel auf die richtige Bemessung der Grösse der Arbeiteransiedelungen
an, so dass sie im wesentlichen durch die Familienmitglieder bewirtschaftet werden können.
Die Hauptvoraussetzung des Gedeihens solcher Arbeiteransiedelungen ist aber das Vor-
ausgehen einer umfassenden bäuerlichen Kolonisation. Denn nur in Anlehnung an Bauern-
dörfer oder Vermischung mit solchen vermögen, wıe die Erfahrung gezeigt hat, solche Arbeiter-
güter wirtschaftlich zu gedeihen, nur so ıst die Möglichkeit des Emporsteigens gegeben. Es gilt
eben die soziale Stufenleiter auf dem Lande auch im Osten wieder herzustellen, in der keine Sprosse
fehlt. Noch sind wir von dem einmal von Schmoller aufgestellten Ziele, 1%, Millionen ha durch
ımnere Kolonisation in 60—80 000 Bauern- und 200—300 000 Häuslerstellen aufzulösen, recht weit
entfernt. Noch immer gehören dem Grossgrundbesitz in Posen und Westpreussen 1,5 Millionen,
im übrigen Osten Preussens 3,5 Millionen ha landwirtschaftlicher Fläche.
Die Unterstützung der inneren Kolonisation bildet daher nach wie vor
die wichtigste Aufgabe auch der ländlichen Wohlfahrtspflege. Sie wird durch den Deutschen
Verein seit Jahren durch die Einrichtung einer ‚„Auskunftsstelle für bäuerliche Ansiedelungen“
und die Herausgabe der Zeitschrift ‚Neues Bauernland‘“ bewirkt. Ausserdem ist aus den Kreisen
des Vereins die erste gemeinnützige Ansiedelungsgesellschaft hervorgegangen: die im Jahre 1899
gegründete „Deutsche Ansiedelungsgesellschaft‘‘, welche 1901 ohne Verlust liquidierte. Sıe hat
den Weg bereitet für die drei grossen gemeinnützigen Ansiedelungsgesellschaften, welche jetzt ın
den östlichen Provinzen bestehen: die ‚Pommersche Landgesellschaft‘“ in Stettin, 1903 von einer
Anzahl grösserer Landwirte gegründet, 1910 umgestaltet, die „Ostpreussische Landgesellschaft”
in Königsberg, 1905 gegründet, 1909 umgestaltet, und die Landgesellschaft ‚Eigene Scholle” ın
Frankfurt a. OÖ. Sie sind durchweg Gesellschaften m. b. H., an denen Staat, Provinz (bei den beiden
ersten), Genossenschaftsverbände und Kreise, bei der dritten auch Städte, Erwerbsgesellschaften
und Private beteiligt sind. Sie sind also „gemischte Gesellschaften“, welche vor den namentlich
von agrarischer Seite angestrebten rein staatlichen Anstalten den Vorzug einer freieren Beweglich-
keit und einen geschäftsmässigen Zug behufs Erwirtschaftung einer allerdings beschränkten Divı-
dende besitzen. Sie arbeiten Hand in Hand mit den Generalkommissionen, und in ihnen liegt Jetzt
jedenfalls der Schwerpunkt der bäuerlichen Kolonisation. Ähnliche Gesellschaften sind auch für
Hannover und Holstein in Hannover und Kiel 1907 und 1910 gegründet worden, hier besonders
tür die Moor- und Heidekultur und die Schaffung von Arbeiterstellen.
Ein anderes wirtschaftliches Gebiet von grosser Wichtigkeit, auf welchem die ländliche
Wohlfahrtspflege auch nur die Aufgabe der Unterstützung hat, ohne dass es selbst zu ıhr gehört,
ist ds Genossenschaftswesen. Auch hier handelt es sich ja in erster Linie um die
Erzielung wirtschaftlicher Vorteile, die Hebung der wirtschaftlichen Lage der ländlichen Bevölke-
rung. Aber es hat doch auch zugleich einen weitgehenden Einfluss auf das gesamte soziale, geistig-